Irreführende Zahlen

Nebenwirkungen sind nicht mit Impfschäden gleichzusetzen

25.9.2023, 12:51 (CEST)

Über die Covid-19-Impfungen kursieren diverse Falschbehauptungen. Nun soll eine Hochrechnung die Zahl der Impfschäden bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland zeigen. Doch das stimmt nicht.

In der Schweiz gibt es eine neue Impfempfehlung gegen das Coronavirus (Download-Link), die bestimmten Gruppen die Impfung ab Oktober nahelegt. Solche Empfehlungen wurden während der Pandemie laufend dem Stand des Wissens angepasst und waren von Land zu Land etwas unterschiedlich. In einem Instagram-Post wird allerdings behauptet, «rund 100'000 Kinder und Jugendliche in Deutschland» hätten einen Impfschaden erlitten. Der gezeigte Artikel bezieht sich auf Covid-19-Impfungen. Stimmen diese Zahlen und wie sind diese entstanden?

Bewertung

Die Hochrechnung ist nicht aussagekräftig, denn sie enthält Fehler. Nebenwirkungen der Covid-19-Impfung sind nicht automatisch ein Impfschaden.

Fakten

Der Instagram-Post verlinkt auf einen Artikel von «tkp», ein Blog, das bereits in der Vergangenheit Falschinformation verbreitet hat. In dem besagten Artikel sollen angeblich die Covid-Impfzahlen aus dem deutschen Bundesland Niedersachsen «das Ausmass der Impfschäden» bei unter 18-Jährigen zeigen.

Diese Hochrechnung von angeblich 100'000 deutschen Kinder und Jugendliche mit einem Covid-19-Impfschaden beruht auf der Antwort des Gesundheitsministeriums von Niedersachsen auf eine Anfrage von zwei AfD-Abgeordneten im Landtag. In dieser Antwort teilt das Ministerium unter anderem mit, dass in der Altersgruppe zwischen 5 bis 17 Jahren in den Jahren 2021 bis 2023 insgesamt 1,16 Millionen Impfungen erfolgten. 505'569 Kinder und Jugendliche wurden ein einziges Mal geimpft, rund 650'000 mehrfach.

Auf die Frage, wie viele Kinder und Jugendliche bis April 2023 «aufgrund von Nebenwirkungen» ärztlich behandelt wurden, bezog sich das Ministerium auf Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen. Gemäss diesen Daten wurden etwa 9300 5- bis 18-Jährige «aufgrund von unerwünschten Nebenwirkungen» ärztlich behandelt.

«tkp» setzt diese Zahl ins Verhältnis zu den rund 505'000 5- bis 17-Jährigen, die mindestens eine Dosis des Covid-19-Impfstoffs erhalten haben. Daraus wurde fälschlicherweise die Schlussfolgerung gezogen, dass 1,8 Prozent der Kinder und Jugendlichen «aufgrund von Nebenwirkungen und Impfschäden behandelt» worden seien. Diese Zahl wurde dann auf ganz Deutschland hochgerechnet und ergab die vermeintlichen 100'000 Personen.

Nebenwirkungen sind nicht gleichzusetzen mit Impfschäden

In der Rechnung hat es mehrere Fehler. Einerseits ist die Zahl der Nebenwirkungen nicht in ein Verhältnis zur Gesamtzahl der Geimpften (1,16 Millionen), sondern lediglich ins Verhältnis zur Anzahl derjenigen gesetzt worden, welche lediglich eine Impfdosis erhalten haben. Bei einer Bezugnahme auf die Gesamtzahl der Geimpften ergäbe sich ein Prozentsatz von 0,8 statt 1,8 Prozent.

Zudem behauptet die Artikelüberschrift, dass es sich dabei um Impfschäden handele. Doch die Frage ans Ministerium und deren Antwort betrifft unerwünschte Nebenwirkungen. Impfschäden zählen zu den unerwünschten Nebenwirkungen, sind aber nicht die einzigen Nebenwirkungen. Rechtlich gesehen handelt es sich dabei nicht um das gleiche.

«Unerwünschte Nebenwirkungen» sind beispielsweise Schmerzen oder Rötungen an der Impfstelle, Fieber, Ausschlag, Durchfall, Müdigkeit oder Gliederschmerzen und geschwollene Lymphknoten. Nach Angaben des deutschen Bundesgesundheitsministeriums sind solche Reaktionen zwar nicht beabsichtigt, dauern aber nur wenige Tage und erfordern nicht wirklich eine ärztliche Behandlung.

Ein «Impfschaden» hingegen ist gemäss Paragraf 2 des deutschen Infektionsschutzgesetzes «die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung». Zu schwerwiegenden Nebenwirkungen zählen laut deutschem Arzneimittelgesetz unter anderem Impffolgen, die tödlich oder lebensbedrohend sind oder zu einer schwerwiegenden Behinderung führen. Ein solcher Impfschaden berechtigt in Deutschland zur Beantragung von Versorgungsleistungen bei den entsprechenden Landesversorgungsämtern.

Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) ist in Deutschland für Arzneimittelsicherheit zuständig und hat fortlaufend Zahlen zu Covid-19-Impfstoffen für ganz Deutschland veröffentlicht. Diese sind nach Alter, Geschlecht und dem jeweiligen Impfstoff aufgeschlüsselt sowie nach Verdachtsfällen von Nebenwirkungen insgesamt und nach Verdachtsfällen auf schwerwiegende Nebenwirkungen. Ergebnisse wie aus jener vermeintlichen Hochrechnung aus Niedersachsen zeigen sich in den Zahlen des PEI nicht.

Definition in der Schweiz

Auch in der Schweiz sind Nebenwirkungen einer Covid-Impfung nicht mit Impfschäden gleichzusetzen. Nach einer Covid-19-Impfung kann es zu Nebenwirkungen kommen. Doch diese sind meistens schwach bis moderat und klingen nach einigen Tagen ab. «Nicht jede beliebige Impfreaktion [...] oder unerwünschte Nebenwirkung [...] begründet aus rechtlicher Sicht einen Impfschaden», schreibt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in der Covid-19-Impfstrategie (Seite 26, Download-Link).

Weiter heißt es: «Als schwerwiegende Folgeschäden von Impfungen gelten länger- oder langandauernde schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen, die für die geimpfte Person zu einem Schaden (d.h. einer Vermögensverminderung) führen.» In solchen Fällen liegt die haftungsrechtliche Verantwortung beim Hersteller oder bei der Impfstelle. Je nach Fall kann aber auch eine Entschädigung durch den Bund erfolgen.

Bereits in mehreren Faktenchecks hat die Deutsche Presse-Agentur (dpa) die Haftungsregelungen bei Impfschäden erläutert.

(Stand: 25.9.2023)

Links

Instagram-Post (archiviert)

Artikel mit Falschbehauptung (archiviert)

BAG: Coronavirus – Impfung (archiviert)

BAG: Merkblatt Covid-19-Impfung ab Oktober 2023, 11.09.2023 (Download-Link) (archiviert)

BAG: Covid-19-Impfstrategie, 29.11.2022 (archiviert)

Niedersächsischer Landtag: Beantwortung der Anfrage der AfD, 19.07.2023 (archiviert)

Deutsche Bundesregierung: Unerwünschte Nebenwirkungen infolge von COVID-19-Impfstoffen (archiviert)

Deutsches Infektionsschutzgesetz (archiviert)

Deutsches Arzneimittelgesetz (archiviert)

PEI: Sicherheitsprofil der Covid-19-Imfpstoffe, 31.03.2023 (archiviert)

dpa-Faktenchecks:

- Covid-Impfungen: Studien liegen vor, Haftung ist geregelt

- Inhaltsstoffe bei Covid-Impfung ausgewiesen, Haftung geregelt, US-Daten sind Verdachtsmeldungen

- Paragraph zu Impfschäden seit 15 Jahren im Vertrag einer deutschen Unfallversicherung

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