Unpassender Vergleich: Deutschland kauft immer noch russisches Gas

28.7.2022, 19:20 (CEST)

Ruinieren manche Staaten durch ihre Russland-Politik die eigene Wirtschaft, während andere trotz des Krieges in der Ukraine weiter Gas beim Aggressor Russland Gas kaufen? Das wird behauptet - doch der Lieferstopp von Erdgas nach Deutschland hatte technische Gründe.

Wegen Wartungsarbeiten wurde die Lieferung von Erdgas aus Russland nach Deutschland eingestellt – ein alljährliches Phänomen im Sommer. Bereits zuvor kam deutlich weniger Gas in Deutschland an. In einem Facebook-Post (archiviert) wird die Frage gestellt, ob wir «die einzigen Deppen» seien, die «sich ruinieren». Das Sharepic bezieht sich auf Deutschland - auf dessen Gaslieferungen die Schweiz sich unter anderem verlässt. Aufgezählt werden davor die Gasgeschäfte, die diverse andere Länder angeblich mit Russland machen.

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Die Angaben zu den anderen Ländern sind zwar größtenteils korrekt, der Vergleich passt aber nicht. Selbst nach einer erneuten Reduktion bezieht Deutschland mehr Gas aus Russland als jedes andere europäische Land. Aufgrund von Wartungsarbeiten gab es eine Zeit lang einen Lieferstopp. China und Indien haben ihre Importe zwar deutlich erhöht, Gasverkäufe von Indien nach Deutschland sind jedoch nicht belegt.

Fakten

Das Sharepic bezieht sich auf den Gashandel Deutschlands mit Russland. Das Signet «Sichert Deutschland» ist unten rechts zu erkennen. Es verweist auf den deutschen AfD-Politiker Martin Sichert. Mit seinem Facebook-Eintrag erzielte er in Deutschland auch deutlich mehr Aufmerksamkeit als in der Schweiz.

Indirekt ist auch die Schweiz von der Situation betroffen: Sie verfügt über keine Gasspeicher und ist zu 100 Prozent von Importen abhängig. Die Schweiz bezieht zwar nicht direkt Gas aus Russland, aber über andere Länder kamen 43 Prozent der Importe im Jahr 2021 aus Russland. Drei Viertel dieser Lieferungen werden über Deutschland abgewickelt. Werden die russischen Lieferungen in die EU gedrosselt, wirkt sich das auch auf die Schweiz aus.

Doch für den Gasmangel sind höchstens indirekt politische Entscheidungen Deutschlands verantwortlich. Die EU hat Erdgas bislang noch nicht sanktioniert, die deutsche Regierung will dem jetzigen Stand nach weiterhin Gas aus Russland kaufen.  

Am 14. Juni hatte der russische Energiekonzern Gazprom mitgeteilt, die über die Pipeline Nord Stream 1 transportierte Gasmenge müsse reduziert werden. Dafür werden technische Gründe angegeben. Die Deutschen Behörden sprechen von einem «Vorwand».

Jährlich werden im Sommer Wartungsarbeiten durchgeführt, was zu einem Lieferstopp von russischem Gas über die Pipeline Nord Stream 1 für einige Wochen führt. Seit dem 21. Juli kommt wieder Gas aus Russland in Deutschland an. Wie vor den Wartungsarbeiten ist der Durchfluss aber beschränkt, erst auf etwa 40 Prozent, seit dem 27. Juli sogar auf 20 Prozent der eigentlichen Kapazität.

Deutschland bezieht also aber weiter Erdgas aus Russland, nicht anders als die anderen europäischen Länder, die im Sharepic aufgeführt sind. Zahlen zur Menge in Kubikmetern sind lediglich bis April 2022 verfügbar. In diesem Monat flossen gemäss der EU-Statistikbehörde Eurostat etwas mehr als 4,8 Milliarden Kubikmeter nach Deutschland. 40 Prozent davon sind also etwa 1,9 Milliarden Kubikmeter. Der Grafik zufolge ist Deutschland im Vergleich zu anderen EU-Staaten der grösste Importeur von russischem Gas.

Italien bezieht deutlich weniger Gas aus Russland als Deutschland. 63 Millionen Kubikmeter habe der grösste italienische Öl- und Gasversorger ENI täglich in Russland bestellt, was rund 1,9 Milliarden Kubikmeter im Monat ergibt. Jedoch komme lediglich die Hälfte davon an, berichtete BBC. ENI teilte sogar mit, dass seit kurzem nur noch 21 Millionen Kubikmeter am Tag geliefert würden. Das wären zwischen 630 und 651 Millionen Kubikmeter im Monat. Auch wenn kleinere italienische Importeure dazugezählt werden, bezieht Italien weniger Gas aus Russland als Deutschland.

Spanien importiert einem Bericht des Wirtschaftsnachrichtendienstes Bloomberg zufolge tatsächlich aus Russland mehr Gas als je zuvor. Mit einem Energiewert von 8752 Gigawattstunden (GWH) pro Monat ist Russland der zweitgrösste Lieferant Spaniens. Hintergrund ist demnach ein politischer Streit mit Algerien, einem bis dahin sehr wichtigen Gaslieferanten. Die Zahl findet sich auch in einem Bericht des spanischen Pipeline-Betreibers ENAGAS.

Bevor Gazprom die Gaslieferung nach Deutschland reduzierte, lieferte Russland täglich Gas mit einem Energiewert von ungefähr 2500 GWH nach Deutschland. Seither der Reduktion sind es noch etwa 900 GWH. Dies geht aus einer Grafik der deutschen Bundesnetzagentur hervor. Mit ungefähr 27’000 GWH monatlich importiert Deutschland trotzdem noch deutlich mehr Gas als Spanien aus Russland.

Auch die Ukraine dient trotz Krieg weiterhin als Transitland für russisches Gas, wie auf der Seite des ukrainischen Betreibers des Transit-Systems ersichtlich ist. Für diesen Transit bezieht das Land auch weiterhin Gebühren.

Indien und China machen tatsächlich deutlich mehr Gasgeschäfte mit Russland als noch vor kurzem: China hat sein Abkommen darüber aber bereits vor Kriegsbeginn abgeschlossen, wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) am 4. Februar berichtete. Die indischen Gasimporte aus Russland haben sich im Mai im Vergleich zum Vorjahr vervielfacht. Es gibt aber keinerlei Belege dafür, dass das Land wiederum Erdgas nach Deutschland oder Europa exportiert - das wäre auch ungewöhnlich, da Indien einem Energie-Analysten zufolge zumindest bis 2020 überhaupt kein Gas ausgeführt hat.

Stand: 28.7.2022

Links

Facebook-Post mit Sharepic (archiviert)

Gazprom-Tweet zu fehlender Turbine (archiviert)

Gazprom-Tweet zu fehlenden Papieren (archiviert)

Bundesnetzagentur zu Wartungsarbeiten an Nord Stream 1 (archiviert)

Eurostat zu deutschen Gasimporten (nicht archivierbar)

BBC zu italienischen Gaskäufen aus Russland (archiviert)

ENI zu verringerten Gaslieferungen aus Russland (archiviert)

Bloomberg-Bericht zu spanischen Gaskäufen aus Russland (archiviert)

ENAGAS-Bericht mit Zahlen zu Gasimporten (archiviert)

Grafik der Bundesnetzagentur zu Gasimporten aus Russland (archiviert)

Ukrainische Transitgesellschaft über transportierte Gasmengen (archiviert)

dpa-Bericht zu Energieabkommen zwischen Russland und China (archiviert)

Business Standard zu Ölimporten von China und Indien (archiviert)

Analysefirma CEIC zu indischen Energieexporten (archiviert)

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