Russland hat Schulden und Spannungen - Es gäbe für Europa Alternativen zum russischen Gas

15.03.2022, 12:20 (CET)

Hat Russland tatsächlich keine Schulden? Gibt es in dem Staat keine inneren Konflikte? Und ist russisches Gas für Europa nicht ersetzbar? Verfügt ganz Europa nur über zwei Terminals für Flüssigerdgas? Das jedenfalls wird in einem Facebook-Post aus der Schweiz behauptet.

Bewertung

Mehrere Behauptungen sind falsch. Russland hat sowohl Auslandsschulden als auch innere Konflikte. Europa könnte - mit einigen Anstrengungen - auf russisches Erdgas verzichten. Es gibt zudem schon jetzt mehr als 20 Terminals für den Umschlag von Flüssigerdgas auf dem Kontinent.

Fakten

Im Facebook-Post wird unter anderem behauptet, Europa sei ohne Russland «verloren». Russland brauche Europa nicht, umgekehrt brauche Europa aber Russland. Diese Meinung wird mit Angaben begründet, von denen einige nachweislich falsch sind.

Dazu gehört etwa: Russland habe «keine Schulden». Russland hat tatsächlich weniger Schulden als viele westliche Staaten, ist jedoch keineswegs schuldenfrei. Unter Berufung auf den Rechnungshof berichtete die russische Nachrichtenagentur TASS im Februar 2021, dass die öffentliche Verschuldung des Landes im Jahr 2020 bei 17,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes gelegen habe.

Laut Internationalem Währungsfonds (IWF) ist die russische Staatsverschuldung seit einem Höchststand im Jahr 1998 (135 Prozent des Bruttoinlandsproduktes) jahrelang gesunken. Sie lag demnach Ende 2021 bei 17,9 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Das ist im Vergleich zu anderen Staaten niedrig. Für Deutschland etwa wurde sie vom IWF auf 72,5 Prozent beziffert.

Russlands Finanzministerium teilte am 13. März 2022 mit, das Land werde seine Auslandsschulden zunächst in - mittlerweile stark abgewerteten - Rubeln bezahlen. Dies wurde damit begründet, dass westliche Staaten das Einfrieren von 300 Milliarden Dollar russischer Währungsreserven beschlossen hatten - als Reaktion auf Russlands Angriff auf die Ukraine.

Auch die Behauptung, Russland habe «keine inneren Konflikte» und sei «politisch und gesellschaftlich stabil», widerspricht der Realität. Präsident Wladimir Putin hat ein zunehmend autokratisches, völlig auf ihn persönlich zugeschnittenes Regierungssystem geschaffen. Eine Analyse der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung von 2017 beschreibt zunehmende Konflikte zwischen unterschiedlichen Clans der regierenden Eliten, die letztlich alle nur von Putin persönlich gelöst und entschieden werden können.

Zudem habe die Repression im Lande - beispielsweise bei den zahlreichen Einsätzen der Polizei gegen Demonstrierende - stetig zugenommen. Es gebe «zunehmend Spannungen in der Gesellschaft, weil eine wirtschaftliche Entwicklung ausbleibt und auch in absehbarer Zukunft nicht zu erwarten ist», heisst es in dem Papier.

Bei den Parlamentswahlen vom September 2021 lag laut einem Bericht der Zeitung «The Moscow Times» die Wahlbeteiligung bei nur 51,7 Prozent. Putins Regierung hat den Kampf gegen die Opposition immer wieder verschärft. Mehrere Organisationen des inhaftierten Kreml-Gegners Alexej Nawalny 2021 wurden ebenso verboten wie unabhängige Medien. Diese Schritte und die Auflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial im Dezember 2021 zeigen, dass die Regierung Gewalt einsetzen muss, um die Verbreitung regierungskritischer Meinungen in der Öffentlichkeit zu verhindern.

Auch die Behauptung, es gebe nur zwei Terminals in ganz Europa, wo man Flüssigerdgas entladen und lagern könne, ist falsch. Nach Angaben der Zeitschrift The National Law Review von August 2021 gibt es derzeit in Europa 29 solcher Terminals. 21 davon liegen in EU-Mitgliedsländern. Derzeit laufen zudem Planungen für 20 grosse Einfuhr-Terminals.

Auch die Behauptung «Wir können das russische Gas nicht ersetzen» stimmt zumindest in dieser absoluten Form nicht. Zumindest zu grossen Teilen sei ein solcher Ersatz durchaus möglich, sagen Experten. Die internationale Energie-Agentur (IEA) in Paris hat nach der russischen Invasion in der Ukraine einen 10-Zehn-Punkte-Plan vorgelegt, um die Abhängigkeit von russischem Erdgas zu verringern.

In der Schweiz kamen 2020 nach Angaben des Verbands der Schweizerischen Gasindustrie 47 Prozent des importierten Gases aus Russland. Das ist ähnlich viel wie in der EU. Der IEA zufolge könnten die Gaseinfuhren aus Russland innerhalb eines Jahres um mehr als ein Drittel gesenkt werden. Die europäischen Kunden könnten mehr Gas aus anderen Quellen beziehen, Wind- und Solarprojekte beschleunigen sowie die Produktion von Bioenergie und Atomenergie maximieren. Mittelfristig seien noch drastischere Verringerungen möglich.

Die Schweizerische Energie-Stiftung erklärt, das Potenzial erneuerbarer Energien sei «noch lange nicht erschöpft». Erneuerbare Energiequellen würden in der Schweiz viel weniger gefördert als in anderen europäischen Ländern. Die Kombination aus Energieeffizienz und einem ausgewogenen Mix erneuerbarer Energie-Technologien könne die Versorgungssicherheit auf einem nachhaltigen Niveau garantieren und sei günstiger, als weiterhin auf endliche Energieträger zu setzen.

Auch Veronika Grimm vom deutschen Sachverständigenrat Wirtschaft, den sogenannten Wirtschaftsweisen, sagte jüngst der Zeitung «Handelsblatt», russisches Gas lasse sich ersetzen: «Mit Gasimporten aus anderen Ländern, dem Einsatz von Kohlekraftwerken und einem geringeren Verbrauch ist das (...) machbar. Es wird herausfordernd und teuer, aber nicht kalt.»

(Stand: 14.03.2022)

Links

Internationaler Währungsfonds zu Schulden, archiviert

TASS-Bericht zu Schulden, archiviert

Bericht Bundeszentrale für politische Bildung, archiviert

Artikel Moscow Timesarchiviert

Bericht LNG-Terminals, archiviert

IEA-Plan, archiviert

Veronika Grimm, archiviert

Interview Handelsblatt, archiviert

Gasindustrie-Verband, archiviert

Schweizer Energie-Stiftung, archiviert

Facebook-Post, archiviert

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