Vorentwurf nicht gelesen?
Video enthält etliche Falschbehauptungen über die WHO
22.3.2024, 11:25 (CET)
Angeblich handelt es sich bei der Weltgesundheitsorganisation nur um einen privaten Verein. Der will sich einem Video im Internet zufolge Kompetenzen aneignen, die ihm gar nicht zustehen und die Menschenrechte sowie die Menschenwürde abschaffen. Und die WHO will angeblich auch jederzeit einen medizinischen Notfall ausrufen dürfen.
Bewertung
Diese Behauptungen sind falsch.
Fakten
Ein Facebook-Post aus Luxemburg mit dem Hinweis «Was viele noch nicht wissen oder wissen wollen» verbreitet ein Video der schweizerischen Webseite QS24.tv. Dabei geht es um ein rund 32-minütiges Gespräch mit Professor Stefan Hockertz, einem deutschen Toxikologen und Pharmakologen, der seit 2021 zu Bekanntheit in der Szene der Covid-Impfgegner gelangte und in die Schweiz umsiedelte.
Es gibt noch keinen endgültigen Vertragsentwurf
In dem Video geht es nach Angaben des Begleittextes um eine «Analyse» des WHO-Pandemievertrags. Tatsächlich beraten die 194 Mitgliedstaaten der WHO eingedenk der Erfahrungen mit der Covid-19-Pandemie seit Anfang 2022 über einen Vorentwurf («Zero Draft») für einen neuen Pandemievertrag. Diese Beratungen finden derzeit noch in einem speziellen Verhandlungsgremium (Intergovernmental Negotiating Body INB) statt. Das Ergebnis soll der Weltgesundheitsversammlung, in der alle Mitgliedsländer vertreten sind, im Mai 2024 vorgelegt werden. Bisher gibt es noch keinen endgültigen Vorschlagstext.
Gleich zu Beginn des Gesprächs behauptet Hockertz (02:28), die WHO sei «eine privatgetriebene Organisation»: «Da ist niemand gewählt worden von irgendeinem Bürger in der EU oder der Schweiz.» Die WHO sei «letztendlich nichts anderes als ein privater Verein» (03:10), der nun «eigene Ziele verfolgt». Die WHO wird von ihm auch als «eine private Unternehmung» (21:00) bezeichnet: «Das ist, als ob (die Pharmahersteller) Pfizer oder Novartis sagen wollen, wie wir zu leben haben.»
Die WHO ist eine Einrichtung der Vereinten Nationen
In Wirklichkeit handelt es sich bei der WHO um eine 1948 gegründete Agentur der Vereinten Nationen für die öffentliche Gesundheit. Gemäß der Verfassung der WHO ist es das Ziel der Organisation, eine bestmögliche Gesundheit für alle Menschen zu erreichen. Ihre Hauptaufgabe ist die Bekämpfung von Erkrankungen. Das Entscheidungsorgan ist die Weltgesundheitsversammlung. Das Gremium, das aus Vertretern der Mitgliedstaaten besteht, tagt einmal jährlich. Zudem gibt es einen Exekutivrat als ausführendes Organ. Generaldirektor als höchster Vertreter der Organisation seit 2017 ist dies der Äthiopier Tedros Ghebreyesus.
Es trifft zu, dass die WHO nur zu einem geringen Teil, nämlich zu etwa 13 Prozent, aus festen Beiträgen der Mitgliedstaaten finanziert wird. Der größte Teil des Jahresbudgets von knapp 8 Milliarden Dollar stammt aus freiwilligen Zahlungen, die häufig an bestimmte Programme gebunden sind. Ende 2021 war Deutschland mit 17,1 Prozent des Gesamtbudgets der größte Geldgeber. An zweiter Stelle rangierte die Bill & Melinda Gates Foundation (9,49 Prozent ), gefolgt von den USA (7,15 Prozent) der EU-Kommission (6,53 %) der Gavi-Allianz für Impfstoffe (6,43 Prozent), Großbritannien (5,99 Prozent) und der Weltbank (2,54 Prozent).
Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages verweist in einem Papier von 2019 darauf, dass der mögliche Einfluss von sogenannten «nicht-staatlichen Akteuren» immer wieder Grund für Kritik gewesen ist. Seit 2016 gibt es ein öffentlich einsehbares Register für Zuwendungen von privater Seite. Die WHO hat alle Vorwürfe, sie sei durch kommerzielle Interessen beeinflussbar, zurückgewiesen.
Jedenfalls bleibt festzustellen, dass die WHO kein «privater Verein» ist, sondern eine UN-Organisation, in der die Regierungen der Mitgliedsländer wie in allen anderen UN-Organisationen auch Entscheidungen treffen.
Menschenrechte sind im Vorentwurf enthalten
Hockertz behauptet, den Einfluß mächtiger Wirtschaftsinteressen erkenne man «unter anderem daran, dass Menschenrechte in diesem Vertrag gar nicht vorkommen» (04:35). Das ist falsch. In dem Vertragsentwurf - dem sogenannten «Zero Draft», denn den Vertragstext gibt es ja noch gar nicht - kommen die Menschenrechte zwölfmal vor. Sie werden in den sogenannten «Erwägungsgründen» zu Beginn des Textes erwähnt und sind unter anderem in Artikel 4 des Vertragsentwurfes enthalten. Dort heißt es, der Vertrag solle «unter voller Achtung der Würde, der Menschenrechte und der Grundfreiheiten der Menschen» umgesetzt werden. Artikel 14 ist ausschließlich dem «Schutz der Menschenrechte» gewidmet.
Möglicherweise bezieht sich die Behauptung, dass Menschenrechte in diesem Vertrag gar nicht vorkämen, auf eine falsche Behauptung über einen ganz anderen Vertrag. Dies jedenfalls lässt eine Bemerkung des Moderators vermuten, der sich auf einen «Artikel 3» bezieht, wonach bisher Maßnahmen nur unter Beachtung der Würde, der Menschenrechte und der Grundfreiheiten der Menschen angeordnet werden durften.
Diese Begriffe seien «ersatzlos gestrichen» worden, behauptet der Moderator unter beifälligem Nicken Hockertz‘. Dabei handelt es sich allerdings ganz offensichtlich um Artikel 3 der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) der WHO aus dem Jahre 2005, die 2007 per Gesetz des Deutschen Bundestages übernommen wurden. Dort heißt es: «Die Durchführung dieser Vorschriften erfolgt unter uneingeschränkter Achtung der Würde des Menschen, der Menschenrechte und der Grundfreiheiten.»
Über eine Neufassung der bereits bestehenden Gesundheitsvorschriften wird parallel zu den Gesprächen über einen neuen Pandemievertrag verhandelt. Zu den Gesundheitsvorschriften gibt es insgesamt rund 300 Änderungsvorschläge. Dazu gehört auch der Vorschlag der indischen Regierung, diesen Artikel 3 in der jetzt geltenden Form zu streichen. Dieser Vorschlag ist bei vielen WHO-Mitgliedern auf scharfe Ablehnung gestoßen. Ein sogenanntes «Review Committee», das im Februar 2023 Empfehlungen zu Änderungswünschen veröffentlicht hat, empfiehlt «dringend», an der vorhandenen Formulierung festzuhalten.
Erster Entwurf betont Souveränität der Staaten
Auch die Behauptung, es gehe darum, dass ein Land mit der Zustimmung zu dem Pandemievertrag seine Souveränität aufgebe (01:40) hält einer näheren Betrachtung nicht stand. Der bisher vorliegende Entwurf unterstreicht gleich an drei Stellen die Souveränität der Mitgliedstaaten in allen Fragen der öffentlichen Gesundheit.
Schon im ersten Satz des Papiers wird der «Grundsatz der Souveränität der Vertragsstaaten bei der Behandlung von Fragen der öffentlichen Gesundheit, insbesondere Pandemieprävention, Bereitschaft, Reaktion und Wiederherstellung der Gesundheitssysteme» betont. In Artikel 4 wird das souveräne Recht der Mitgliedstaaten, «ihren Umgang mit der öffentlichen Gesundheit zu bestimmen und zu verwalten» unterstrichen. In diesem Zusammenhang wird außerdem betont: «Souveränität umfasst auch die Rechte der Staaten über ihre biologischen Ressourcen.»
In Artikel 15 des «Zero Draft» heißt es zwar, der WHO-Generaldirektor könne «in Übereinstimmung mit den festgelegten Bedingungen Pandemien ausrufen». In einer Fußnote zu dieser Textpassage heißt es jedoch, das Verhandlungsgremium INB müsse dies noch diskutieren. Dabei geht es um die Frage der Erklärung einer Pandemie durch den WHO-Generaldirektor sowie die Bedingungen für eine solche Erklärung auch im Zusammenhang mit den internationalen Gesundheitsvorschriften und anderen Mechanismen und Instrumenten.
Wesentliche Behauptungen haben also wenig mit Tatsachen zu tun. Hockertz empfiehlt, Politiker wie beim Vokabelabfragen zur Rede zu stellen (31:18): «Hast Du Artikel 32 gelesen, hast Du Artikel 54 gelesen?» Er fügte hinzu: «Ich glaube, dass dies die Vorgehensweise ist, die uns zusteht als Bürger.» Der Erkenntnisgewinn bei dieser Vorgehensweise dürfte allerdings begrenzt sein: Der Vorentwurf des Pandemievertrags enthält gar keinen Artikel 54.
(Stand 21.03.2024)
Links
Vorentwurf Pandemievertrag, archiviert
Gründung der WHO durch die UN, archiviert
Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, archiviert
Internationalen Gesundheitsvorschriften, archiviert
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