Aufzeichnungen liefern Beweis
YouTube-Video entstellt Fragestunde mit Habeck im Bundestag
26.1.2024, 12:09 (CET)
Der Bundeswirtschaftsminister hat angeblich bei einer Bundestagsdebatte nicht nur die Selbstkontrolle verloren - sondern auch Fragen nicht oder falsch beantwortet. Dies wird in sozialen Medien auf Grundlage eines Videos behauptet, das von einem neuen YouTube-Kanal namens «Deutsche Wahrheit» stammt.
Bewertung
Die Darstellung ist falsch. Das Bundestagsvideo der Debatte und das amtliche Protokoll belegen, dass Habeck ruhig und sachlich auf die gestellten Fragen eingegangen ist. Das YouTube-Video hingegen ist manipulativ zusammengeschnitten und liefert keine Belege für die aufgestellten Behauptungen.
Fakten
Ein in Luxemburg verbreiteter Facebook-Post verlinkt zu einem YouTube-Video, für das mit einem Foto des brennenden Bundestags in Berlin und einem Bild von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) geworben wird. Unter Habecks Gesicht heißt es in großen Buchstaben «Ich hasse euch alle!». Zudem wird behauptet: «Habeck verliert die Selbstkontrolle im Bundestag! Das muss man sehen!»
Das knapp 10 Minuten lange Video zeigt Ausschnitte aus einer Sitzung des Bundestages vom 17. Januar 2024. Erster Tagesordnungspunkt der Sitzung war eine Befragung der Bundesregierung, die unter anderem von Habeck vertreten wurde. Was in dieser Sitzung tatsächlich gesagt wurde, geht aus einem Video auf der Webseite des Bundestages hervor. Noch bessere Informationen liefert das amtliche stenografische Protokoll der Sitzung, weil dort auch Äußerungen vermerkt sind, die im Video nicht zu hören sind.
Minister argumentiert ruhig und sachlich
Die Worte «Ich hasse euch alle» sind zu keinem Zeitpunkt in der Debatte gefallen, sondern offensichtlich frei erfunden. Das Bundestagsvideo zeigt einen ruhig und sachlich argumentierenden Minister. Auch das YouTube-Video liefert keinerlei Bilder aus der Debatte, die belegen würden, dass Habeck die Beherrschung verliert.
Die Betreiber des fraglichen YouTube-Kanals schreiben in einer Erläuterung, man «transformiere» den Originalinhalt von Shows: «Wir verstärken die ursprüngliche Botschaft des Inhalts, indem wir ihn filmischer und für den Endverbraucher leichter verständlich machen.» Dies erklärt möglicherweise, warum die Sprecherin gleich zu Beginn mit erregter Stimme behauptet: «Unglaubliche Dinge passieren im Bundestag. Ich dachte es kann nicht mehr schlimmer werden. Doch es geht täglich immer weiter. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich sagen soll. Mir fehlen die Worte. Und nicht nur mir.»
Zu den «unglaublichen Dingen» gehört nach Darstellung der hinter einem großen Mikrofon und dicker Brille versteckten Sprecherin zunächst, dass Habeck auf eine Frage nicht geantwortet habe. In dem Video wird (ab 0:29) eine Frage der Abgeordneten Julia Klöckner (CDU) eingespielt. Im Protokoll des Bundestages findet sich der Wortwechsel auf Seite 18492. Habeck hatte vor der im Video gezeigten Passage argumentiert, Deutschland befinde sich unter anderem wegen des Wegfalls von russischem Gas in einer wirtschaftlich schwierigen Lage.
Habeck beantwortet konkret Klöckners Fragen
Im YouTube-Video ist lediglich die darauf folgende Frage Klöckners zu sehen, die diese mit der Bemerkung «Ich frage noch mal konkreter, weil nicht an allem nur das fehlende Gas aus Russland schuld sein kann» einleitet. Klöckner fragt dann, welche Belastungen die Bundesregierung für Unternehmen ganz konkret in den nächsten Wochen abschaffen wolle.
«Diese Frage klingt nicht nach etwas Super-Kompliziertem», schaltet sich die Sprecherin dann in dem Video ein. «Man kann sie sehr einfach und ganz direkt beantworten. Aber seine Antwort muss man einfach sehen.» Dann wird Habeck eingeblendet: «Bevor ich diese Frage beantworte: Nein, es ist nicht nur die Abhängigkeit von Gas aus Russland. Es sind auch der fehlende Netzausbau und der fehlende Ausbau der erneuerbaren Energien.» Habeck verweist dann auf die mangelnde Digitalisierung und fehlende Smartmeter.
Anschließend antwortet er auf Klöckners Frage: «Nein, es ist nicht nur das Gas aus Russland. Es ist der strukturelle Mangel in der Infrastruktur, der auf diese Regierung zukam, und die Entbürokratisierung schreitet mit den Praxischecks voran. Die Berichtspflichten werden deutlich reduziert. Das BEG IV liegt beim Justizministerium und wird bald beschlossen werden. Auf der europäischen Ebene werden wir uns auch dafür einsetzen.»
Die Praxischecks zur Entbürokratisierung und die Reduzierung der Berichtspflichten sind konkrete Maßnahmen zur Entlastung von Unternehmen. Das Bürokratieentlastungsgesetz (BEG IV) gehört ebenfalls dazu.
Vergleich mit Bundestagsvideo entlarvt Manipulation
Die Sprecherin im Video tut, als habe sie die Antwort nicht gehört und kritisiert fälschlicherweise: «Herr Habeck, meinen Sie das ernst? Das hat gar nichts mit der Frage zu tun gehabt. Sie sagen viele Worte, aber was ist der Sinn?» Nach der Behauptung, es könne mit der Ampel-Regierung so nicht weitergehen, rät die Sprecherin den Zuschauern in fehlerhaftem Deutsch (2:36): «Achte auf das sprachlose Gesicht von Bundestagspräsidentin.»
Tatsächlich zeigt das Video die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, die den Kopf in Richtung der Oppositionsbänke schüttelt. Entgegen der Behauptung in dem Video reagiert Bas offenkundig nicht auf Habecks Antwort. Dies geht aus dem stenografischen Protokoll hervor. Tatsächlich hatte nämlich Klöckner der Präsidentin zugerufen, dass Habeck ihre Frage nicht beantwortet habe. Zudem gab es noch andere Wortmeldungen. Auf dem vollständigen Video in der Mediathek des Bundestages ist dies (etwa ab 33:00) zu sehen.
Antwort auf CDU-Abgeordneten weggeschnitten
Das YouTube-Video zeigt (ab 3:31) den Abgeordneten Hendrik Hoppenstedt (CDU) mit einer Frage, die sich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes gegen den Haushaltsentwurf der Ampel-Regierung bezieht: «Können wir uns vielleicht darauf verständigen, dass der von Ihnen im Koalitionsvertrag geplante und dann auch von Ihnen durchgeführte Rechtsbruch das Problem ist und nicht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts?» Die Antwort Habecks darauf ist im Video weggeschnitten - «Absolut. Darauf können wir uns verständigen», sagte dieser dem Protokoll zufolge. Das erfährt der Zuschauer der «Deutschen Wahrheit» aber nicht.
Stattdessen kommt (ab 3:43) wieder die Sprecherin zu Wort, die erneut in fehlerhaftem Deutsch kommentiert: «Ich hatte sofort eine Frage, über die ich nachdenken musste. Für den Fall, dass man eine Klage gegen jemanden einreicht und wird dargestellt dass man Recht hat, ist der Kläger dann schuld und muss sich deswegen entschuldigen? Oder ist der Beklagte schuld, weil er vielleicht sogar gegen die Verfassung verstoßen hat. Ich bin sehr an deiner Meinung interessiert.»
Statistik zeigt Entwicklung der Gas-Lieferungen
Die «Deutsche Wahrheit» sieht auch den russischen Lieferstopp für Erdgas nach dem Überfall auf die Ukraine ganz anders als die Bundesregierung. Habeck kommt in dem Video (5:55) unter anderem mit dem Satz zu Wort: «Er (Putin) hat das Gas abgestellt, um Europa und Deutschland in Unruhe zu bringen.» Dem Video zufolge war jedoch alles anders: Putin habe auf internationale Sanktionen mit der Forderung nach Bezahlung für das Öl in Rubeln reagiert. «Dann hat Putin den Gashahn zugedreht. Nicht ganz, sondern nur ein bisschen», sagt die Erzählerin. Der «Vertragsgeber» habe seine Leistungen eingestellt, weil der «Vertragsnehmer» nicht mehr zahlen wollte.
Mit den Tatsachen hat das wenig zu tun. Richtig ist, dass nach Angaben des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft Mitte Mai 2022 etwa die Hälfte der 54 ausländischen Gazprom-Kunden die von Russland geforderten Sonderkonten bei der Gazprombank eingerichtet hatte und diese Bank auch keinen Sanktionen seitens der EU unterlag.
Putin drehte den Gashahn auch nicht «nur ein bisschen» zu. Wegen einer angeblich fehlenden Turbine reduzierte Russland am 11. Juni 2022 die Gaslieferung auf 40 Prozent des bisherigen Wertes. Zugleich bot Putin an, fehlende Mengen nach Inbetriebnahme der Pipeline Nord Stream 2 zu liefern. Zahlen von Statista zeigen, dass am 13. Juli 2022 die Gaslieferungen zunächst für eine Woche eingestellt wurden, angeblich wegen Wartungsarbeiten. Am 30. August 2022 wurden sie komplett eingestellt. Erst danach, am 26. September 2022, wurden beide Stränge von Nord Stream 1 in der Ostsee gesprengt.
Argumente statt Aggression in Antwort auf AfD
Die Behauptung, dass Robert Habeck «die Beherrschung» verloren habe und «aggressiv» gegenüber dem AfD-Abgeordneten Steffen Kotré geworden sei (8:00) ist auch anhand des von der «Deutschen Wahrheit» gezeigten Redeausschnitts nicht nachvollziehbar.
Der Minister sagt nämlich: «Die Antwort liegt darin, dass wir uns entschieden haben, die Ukraine zu unterstützen - im Gegensatz zu Ihnen. Sie können es sich leicht machen und sagen: Die sollen doch einfach aufgeben und von Putin überrannt werden, und dann das nächste Land und das nächste Land. - Wir unterstützen die Ukraine militärisch und wirtschaftlich, wie auch die europäischen Staaten, die die Ukraine weiter unterstützen. Deswegen geben wir Geld aus. Dieses Geld geben wir aus; es ist objektiv weg und steht - das muss man zugeben - nicht der deutschen Volkswirtschaft zur Verfügung. Aber damit sorgen wir dafür, dass die Freiheit in Europa gewahrt bleibt. Stellen Sie sich einmal vor, dass Putin diesen Krieg gewinnt! Kein anderes Land wäre danach noch sicher.»
(Stand 26.01.2024)
Links
Erläuterung der Video-Macher, archiviert
Sitzungsvideo Bundestagswebseite, archiviert
Stenografisches Protokoll, archiviert
Über Praxischecks zur Entbürokratisierung, archiviert
Über Reduzierung von Berichtspflichten, archiviert
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, archiviert
Ost-Ausschuss zu Russland-Sanktionen, archiviert
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