Falsches Zahlenspiel mit Impfschäden von Kindern und Jugendlichen

24.08.2023, 17:19 (CEST)

Die offiziellen Zahlen zu Impfschäden nach der Covid-19-Impfung seien geschönt, behaupten Anhänger von Verschwörungstheorien immer wieder. Die wirklichen Zahlen seien viel höher. Diese Ansicht hat auch mit einem Missverständnis zu tun.

Um die Corona-Impfung ranken sich viele Verschwörungsmythen. Diese betreffen unter anderem die Zahl der verzeichneten Impfschäden. So wird in einem in Luxemburg geteilten Facebook-Post ein Artikel mit der Überschrift «Rund 100 000 Kinder und Jugendliche in Deutschland mit Impfschaden» verbreitet. «Das sind nur die offiziellen freigegebenen Zahlen!» schreibt der Facebook-User dazu. Ist da etwas dran?

Bewertung

Die Behauptung ist falsch. Es handelt sich um eine fragwürdige «Hochrechnung», bei der außerdem Nebenwirkungen und Impfschäden nicht getrennt werden. 

Fakten

Der Facebook-Post beruft sich auf eine in Österreich beheimatete Webseite mit dem Kürzel «tkp», die bereits mehrfach falsche und irreführende Informationen verbreitet hat. In dem Artikel wird behauptet, offizielle Covid-Zahlen aus Niedersachsen von Personen unter 18 Jahren zeigten «das Ausmaß der Impfschäden». «Hochgerechnet auf ganz Deutschland sind 100 000 Impfschäden bei Personen unter 18 Jahren zu kalkulieren.»

Diese «Hochrechnung» beruht auf der Antwort des Gesundheitsministeriums in Hannover auf eine Anfrage von zwei AfD- Abgeordneten des niedersächsischen Landtages. In dieser Antwort teilt das Ministerium unter anderem mit, dass in der Altersgruppe zwischen 5 bis 17 Jahren in den Jahren 2021 bis 2023 insgesamt 1,16 Millionen Impfungen erfolgten. 505 569 Kinder und Jugendliche wurden ein einziges Mal geimpft, rund 650 000 mehrfach.

Auf die Frage, wie viele Kinder und Jugendliche bis April 2023 «aufgrund von Nebenwirkungen» ärztlich behandelt worden seien, antwortete das Ministerium, dass dazu Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen vorlägen. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass nicht nach «Impfschäden», sondern nach «Nebenwirkungen» gefragt wurde.

Aus den vom Ministerium weitergereichten Daten der kassenärztlichen Vereinigung über die Behandlung von Kindern und Jugendlichen «aufgrund von unerwünschten Nebenwirkungen» geht hervor, dass insgesamt 9301 Personen erfasst wurden. Die fragliche Webseite setzt diese Zahl nun in ein Verhältnis zu jenen rund 505 000 Personen, die sich «mindestens einmal gegen Covid behandeln» haben lassen. Dies bedeute, dass 1,8 Prozent der Kinder und Jugendlichen «aufgrund von Nebenwirkungen und Impfschäden behandelt» worden seien. Da die niedersächsischen Jugendlichen etwa ein Zehntel der deutschen Jugendlichen ausmachten, ergebe sich, «dass rund 100 000 mit einer Nebenwirkung nach der Covid-Impfung zu kämpfen hatten».

Hierbei ist erstens zu beachten, dass die Zahl der Nebenwirkungen nicht in ein Verhältnis zur Zahl der Impfungen (1,16 Millionen), sondern lediglich in ein Verhältnis zur Zahl der ein einziges Mal Geimpften gesetzt wird. Bei einer Bezugnahme auf die Zahl der Impfungen ergäbe sich ein Prozentsatz von nur noch 0,8 statt 1,8 Prozent. Und zweitens, dass die Webseite in der Überschrift des Artikels eine Behauptung über «Impfschäden» aufstellt, im Text aber von «Nebenwirkungen» spricht.

Darin spiegelt sich ein häufig auftauchendes Missverständnis wider: Beides sind sehr unterschiedliche Dinge. Alle Impfschäden sind unerwünschte Nebenwirkungen - aber bei weitem nicht alle Nebenwirkungen sind Impfschäden.

«Unerwünschte Nebenwirkungen» sind beispielsweise Schmerzen oder Rötungen an der Impfstelle, Fieber, Ausschlag, Durchfall, Müdigkeit oder Gliederschmerzen und geschwollene Lymphknoten. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums sind solche Reaktionen zwar nicht beabsichtigt, dauern aber nur wenige Tage und erfordern nicht wirklich eine ärztliche Behandlung.

Ein «Impfschaden» hingegen ist gemäß Paragraf 2 des Infektionsschutzgesetzes «die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung». Zu schwerwiegenden Nebenwirkungen zählen laut Arzneimittelgesetz unter anderem Impffolgen, die tödlich oder lebensbedrohend sind oder zu einer schwerwiegenden Behinderung führen. Ein solcher Impfschaden berechtigt auch zur Beantragung von Versorgungsleistungen bei den entsprechenden Landesversorgungsämtern.

Nach Angaben des für die Arzneimittelsicherheit zuständigen Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) vom März 2023 wurden seit 2020 rund 192,2 Millionen Covid-Impfungen verabreicht. Dabei gab es gut 340 000 Verdachtsmeldungen von Nebenwirkungen oder Impfkomplikationen. In 56 432 Fällen handelte es sich um den Verdacht «schwerwiegender Impfnebenwirkungen». Das entspricht 0,03 Prozent der Impfungen.

Auch die auf der fraglichen Webseite verbreitete Behauptung «Gesamtdeutsche Zahlen gibt es weiterhin nicht, das RKI gibt die Zahlen nicht raus» ist falsch. In der Impfbilanz des PEI für ganz Deutschland werden die Verdachtsfälle von Nebenwirkungen auch nach Altersgruppen aufgeschlüsselt. Demnach sind in den Altersgruppen zwischen 5 und 17 Jahren insgesamt 6353 Verdachtsfälle von Nebenwirkungen aufgelistet, davon 1634 Verdachtsfälle von «schwerwiegenden Nebenwirkungen». Die offiziellen Zahlen liegen also deutlich unter der «Hochrechnung» der auf Facebook verlinkten Webseite tkp.

Nach einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. März 2023 sind nach Angaben von 13 der 16 Bundesländer bis Mitte März insgesamt 6600 Anträge auf Versorgungsleistungen nach einem möglichen Covid-Impfschaden eingegangen. Die Zahl der anerkannten Impfschäden lag demnach bei 284.

In Einzelfällen hat es in Deutschland durchaus schwere Impfschäden gegeben. «Alle diese Schicksale sind absolut bestürzend, und jedes einzelne Schicksal ist eines zu viel, und die Menschen tun mir ehrlich gesagt auch sehr leid», sagte Gesundheitsminister Karl Lauterbach Mitte März in einem ZDF-Interview.

(Stand: 24.8.2023)

Links

Facebook-Post (archiviert)

Webseite tkp (archiviert)

Anfrage Landtag Niedersachsen (archiviert)

Bundesgesundheitsministerium zu Nebenwirkungen (archiviert)

Infektionsschutzgesetz zu Impfschäden (archiviert)

Arzneimittelgesetz (archiviert)

Impfbilanz Paul-Ehrlich-Institut (archiviert)

Bericht FAZ (archiviert)

RKI zu Impfschäden (archiviert)

Lauterbach zu Impfschäden (archiviert)

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