Ganz vermessen

Kirche in Shropshire hat nichts mit Tataria zu tun

05.06.2023, 14:59 (CEST), letztes Update: 05.06.2023, 15:01 (CEST)

Manchmal sehen Menschen nur das, was sie sehen wollen. Dann werden ganz alltägliche Dinge plötzlich zu rätselhaften Überbleibseln aus einer untergegangenen Hochkultur.

Eine alte Kirche in England ist angeblich ein tatarisches Gebäude. Das jedenfalls wird in sozialen Netzwerken behauptet. Bei näherem Hinsehen fällt diese Theorie allerdings in sich zusammen.

Bewertung

Die Kirche hat mit Tataria oder Tataren nichts zu tun. Die angeblichen Beweise entpuppen sich als höchst normale und ziemlich moderne Anlagen.

Fakten

In einem Facebook-Post aus Luxemburg wird behauptet, in dem beigefügten Video sehe man «ein altes tatarisches Gebäude, in dem noch die ursprünglichen Steckdosen für die Stromübertragung vorhanden sind». In dem Video wird dann eine Reihe angeblicher Beweise für diese Behauptung präsentiert.

Die Theorie von Tataria

Mit der Behauptung über das angeblich «tatarische» Gebäude wird Bezug genommen auf eine Verschwörungstheorie, die die gesamte Geschichtswissenschaft infrage stellt. Diese Theorie geht unter Berufung auf alte und dementsprechend ungenaue Landkarten etwa davon aus, Tataria (auch Tartaria oder Tartarei geschrieben) habe sich einst von China über Russland bis weit nach Europa hinein erstreckt.

Diese eigentlich in Russland beheimatete Hochkultur habe rund um den Globus zahlreiche spektakuläre Bauwerke errichtet - von der Chinesischen Mauer über die Pyramiden bis hin zum Weißen Haus - deren tatsächlicher Ursprung im Westen allerdings nicht anerkannt werde.

Die 1845 gegründete Russische Geographische Gesellschaft beschäftigte sich in einem Artikel vom 5. Oktober 2020 unter dem Titel «Die ganze Wahrheit über Tartaria» mit der Behauptung, es gebe eine Verschwörung von Wissenschaftlern, die die Wahrheit über diesen «großen Staat» verheimlichen wollten. Zu den ersten, die den nationalistisch gesinnten Russen die angebliche Geschichte von Tartaria vermitteln wollte, habe Nikolai Lewaschow gehört, «ein selbsternannter Akademiker und Schriftsteller, dessen Bücher 2013 per Gerichtsurteil für extremistisch erklärt wurden».

In dem Artikel der russischen Wissenschaftler heißt es, im Europa des Mittelalters sei damals praktisch alles, was man in Asien nur bruchstückhaft entdeckte, als «tatarisch» bezeichnet worden: «Offensichtlich handelt es sich bei Tartaria nicht um einen bestimmten Staat, sondern um eine Art mythologisches Land, das nie genaue Grenzen hatte.»

Tataria sei ein «offizieller Begriff, der unbekannte Gebiete bezeichnete», gewesen. «Ultranationalistische und neoheidnische Gruppen» hätten sich des Begriffs «Tartaria» bemächtigt: «Aber auf der Suche nach einer Sensation wählten Pseudohistoriker nur die Fakten aus, die in das von ihnen erfundene Konzept passten», heißt es in dem Artikel der Russischen Geographischen Gesellschaft. Eine kompakte Information über die tatsächlichen Tataren liefert unter anderem die Bundeszentrale für Politische Bildung hier

Die Kirche von Owestry

Zu den wesentlichen Fantasien über Tataria gehört die Behauptung, diese Kultur sei in der Lage gewesen, Energie aus der Luft zu gewinnen. Darum geht es auch in dem auf Facebook geteilten Video. Bei dem dort nicht identifizierten oder lokalisierten Gebäude handelt es sich um die anglikanische Kirche St.Oswald‘s im Ort Oswestry in der englischen Grafschaft Shropshire nahe der Grenze zu Wales.

Zunächst wird in dem Video (0:10) behauptet, es führe ein starkes Erdungskabel vom Turm in den Boden. Dessen Aufgabe sei es, «die Antennen daran zu hindern, Energie zum Boden zu schicken, wo sich die Steckdose befindet». Abgesehen davon, dass die physikalische Logik schwer verständlich ist: Es handelt sich bei dem gezeigten Kabel um einen schlichten Blitzableiter am Turm. Später wird in dem Video ein zweiter Blitzableiter an der anderen Turmseite gezeigt und ebenfalls fälschlicherweise als Kabel zur Unterbindung von Energie-Transfers identifiziert. Irgendwelche Antennen sind weder in dem Video noch auf Fotos des Turms von St. Oswald's zu sehen. Auf dem Turm befindet sich lediglich ein Fahnenmast.

Die angebliche Steckdose an der Außenwand (Video 0:20) hat mit dem angeblichen Strom aus angeblichen Antennen ebenfalls nicht das Geringste zu tun. Es handelt sich vielmehr um eine Landvermessungsmarkierung. Das gezeigte einzementierte Teil mit der Nummer 2646 und den Buchstaben OSBM ist ein sogenanntes «Flush Bracket», von dem Tausende in ganz England in Vermessungspunkten zu finden sind. All diese «Benchmarks» sind in Datenbanken gelistet. Deshalb findet sich auch die «tatarische Steckdose» als «Ordnance Survey Flush Bracket 2646» im Internet.

Während in dem Video (0:45) der Sprecher unter Hinweis auf die eingemeißelte Jahreszahl sagt: «Man hat uns angelogen: 1692 - und man hatte Elektrizität» wird in dem Facebook-Posts behauptet, es handele sich gar nicht um das Jahr 1692, sondern die Inschrift laute «J692», also «692 Jahre nach dem Tod Jesu». Auch dies ist unrichtig. Im Mittelalter gab es eine Reihe von unterschiedlichen Schreibweisen für die Ziffer 1. In vielen Fällen wurde die Ziffer 1 so geschrieben, dass sie an die heutige Schreibweise des Buchstabens J erinnert.

Auf der Suche nach Beweisen für die schon vor langer Zeit aus dem Äther gewonnene Elektrizität zeigt der Autor des Videos (0:33) auch eine in die Außenwand gemeißelte Markierung, in deren Mitte sich ein metallischer Bolzen befindet. Auch dies bezeichnet er als «Steckdose». Tatsächlich handelt es sich auch hier um das Werk von Landvermessern. Die Markierung mit einer waagerechten Linie und drei ins Zentrum weisenden Linien mit einem ebenfalls waagerecht geritzten Bolzen heißt offiziell «Survey Cut Mark with Bolt» und dient Technikern als wichtige Marke bei der Höhenfestlegung.

Nach Angaben der Kirche bestand ein Gotteshaus in Oswestry seit mehr als 1000 Jahren. Nach dem englischen Bürgerkrieg wurde ein Neubau der zerstörten Kirche 1670 fertiggestellt. Die Kirche wurde im 19. Jahrhundert renoviert.

Die Geschichte der Steckdose

Steckdosen zur Übertragung elektrischen Stroms gibt es erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Als ihr Erfinder gilt der US-Unternehmer Harvey Hubbell (1957-1927), der seinerzeit entsprechende Patente eintragen ließ.

(Stand 05.06.2023)

Links

Facebook-Post, archiviert

Video, archiviert

Artikel über Verschwörungstheorie, archiviert

Landkarten-Beispiel Tartaria, archiviert

Artikel Russische Geographische Gesellschaft, archiviert

BPB zu Tataren, archiviert

Kirche St.Oswald‘s, archiviert

Flush Bracket 2646, archiviert

Schreibweisen Ziffer 1, archiviert

Markierung im Stein , archiviert

Geschichte der Kirche, archiviert

Geschichte der Steckdose, archiviert

Über Harvey Hubbell, archiviert

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