Gesetz seit 1875
Die Geburtsurkunde ist weder Geld noch Schulden wert
17.1.2023, 15:16 (CET)
Immer wieder wird in Kreisen von Verschwörungsgläubigen behauptet, bei Geburtsurkunden handele es sich eigentlich um Wertpapiere, mit deren Hilfe die Regierung die Menschen kontrolliert und unterdrückt. Mit einer Geburtsurkunde werde der Mensch zu einer «Handelsware im internationalen Business» gemacht.
Bewertung
Eine Geburtsurkunde ist kein Geld wert und dokumentiert auch keine Schulden gegenüber dem Staat. Sie wird nirgendwo gehandelt.
Fakten
In einem Facebook-Post aus Luxemburg wird ein Video geteilt, das angeblich die Frage «Was hat es mit der Geburtsurkunde auf sich?» beantwortet. Das Video wird über die Webseite «Kamasha TV» verbreitet, die einem früheren Physiotherapeuten aus Fulda gehört, der eigenen Angaben zufolge nach einer vom Erzengel Michael geleiteten Weltreise nun unter anderem als «Botschafter der geistigen Welt und Heiler» wirkt. «Kamasha TV» lässt laut Selbstbeschreibung Stimmen zu Wort kommen, die «in den sogenannten öffentlich-rechtlichen Mainstream-Medien kein Gehör finden würden».
Geburtsurkunden seit 1875 vorgeschrieben
Die Geburtsurkunde sei «viel mehr, als die meisten sich vorstellen können», behauptet der Sprecher namens Gabriel in dem Video. Geburtsurkunden seien erst 1937/38 auf deutschem Boden eingeführt worden. Und zwar von Adolf Hitler, der von dem Sprecher allerdings stets nur «Schnauzbärtchen» genannt wird. Zuvor habe der preußische König «die Kommerzialisierung des menschlichen Lebens» (5:40) verweigert. Und die Weimarer Republik habe sich ebenfalls dazu außerstande gesehen.
All diese Behauptungen sind falsch. Tatsächlich wurden Geburtsurkunden im damals noch jungen Deutschen Reich am 9. Februar 1875 unter Reichskanzler Otto von Bismarck flächendeckend eingeführt. Und zwar mit dem «Reichsgesetz über die Beurkundung des Personenstands und die Eheschließung». Unterschrieben und verkündet wurde das Gesetz von Kaiser Wilhelm I. Mit diesem Gesetz traten staatliche Standesämter in ganz Deutschland an die Stelle der Kirchen, die zuvor in ihren Kirchenbüchern Geburten, Trauungen und Todesfälle registrierten.
Dieses Gesetz wurde im Mai 1920 - also in der Weimarer Republik - mit dem «Gesetz über den Personenstand» verändert. Eine wichtige Änderung dieses Gesetzes war, dass die Religionszugehörigkeit jedes einzelnen Menschen nicht mehr erfasst wurde, sondern nur noch allgemeine Statistiken über die Stärke der Konfessionen geführt worden. Im nationalsozialistischen Deutschland wurde am 3. November 1937 das zweite Personenstandsgesetz verkündet, das auch einen Eintrag über die «rassische Einordnung» der Bürger vorschrieb. Im Mai 1957 wurde dann in der Bundesrepublik Deutschland ein neues Personenstandsgesetz beschlossen.
Die Unsinnigkeit der Behauptung, Geburtsurkunden in Deutschland seien erst 1937/38 von «Schnauzbärtchen» Hitler eingeführt worden, weil sie - so das Video - «einen hohen Stellenwert in der Kontrolle der Menschheit» hätten, wird von einer Sammlung sehr viel älterer Geburtsurkunden auf dieser Webseite von DeWiki deutlich. Die Behauptung, Kaiser Wilhelm II sei abgesetzt worden, weil er die Geburtsurkunde nicht einführen wollte und die Weimarer Republik sei gescheitert, weil nur Hitler die Geburtsurkunde «durchsetzen» konnte, ist ebenso unsinnig.
In dem Video wird in nicht immer logisch nachvollziehbarer Weise behauptet, die Urkunde sei eine Art Wertpapier - im Video ist die Rede von einem «Haftungspapier» - und werde «genutzt, um Bonds zu emittieren» (2:00). Bei Bonds handele es sich um «Versicherungen». Auch das ist falsch: Bonds sind keine Versicherungen, sondern Anleihen, Obligationen oder Schuldverschreibungen. In dem Video heißt es, mit der Geburtsurkunde, könnten «Papiere emittiert» (ausgegeben) werden, mit denen Investoren auf «eure potenzielle Arbeitskraft» investieren könnten. Kosten für Schule, Kinderkrippe, und Krankenhaus würden «auf die Bonds gebucht, bis ihr in der Lage seid, Wertschöpfung zu begehen» (4:00). So entstehe ein riesiger Schuldenberg. Wie das genau funktionieren soll, bleibt unklar.
Tatsächlich sind keinerlei «Haftungspapiere» oder «Bonds» nötig, um staatliche Leistungen wie beispielsweise Schulen oder Krankenhäuser zu finanzieren. Dies geschieht in praktisch allen Staaten der Erde über Steuern, Abgaben und/oder Gebühren.
In dem Video wird behauptet, die angeblich auf die Geburtsurkunde gebuchten Kosten würden «vom System» den Bürgern später vorgehalten. Diese müssten dann für diese Kosten geradestehen und arbeiten. Die angeblich wertvollen Bonds würden «zum Teil vom Fidelity Trust verwaltet». Damit will der Sprecher offensichtlich einerseits beweisen, dass es sich um wertvolle Papiere handelt, und andererseits auf eine Beteiligung der Hochfinanz hindeuten.
Tatsächlich handelt es sich bei der Fidelity Trust Company um ein in Chattanooga (Tennessee) ansässiges Immobilien- und Bauunternehmen. Im Finanzbereich sind andere Unternehmen tätig, die das Wort «Fidelity» (allerdings ohne Trust) in ihrem Namen führen, beispielsweise Fidelity International. Allen gemeinsam ist, dass sie keine Verwaltung von irgendwelchen Papieren, die auf einem angeblichen Wert von Geburtsurkunden beruhen, betreiben. Es gibt keinen Handel mit solchen oder ähnlichen Papieren.
Die Fantasien von Verschwörungsgläubigen rund um die Geburtsurkunde haben in den USA schon zu anderen, ähnlich wirren Behauptungen geführt. Auch dazu hat dpa einen ausführlichen Faktencheck verbreitet.
(Stand 17.1.2023)
Links
Ältere Geburtsurkunden, archiviert
Fidelity Trust Company, archiviert
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