Behauptungen über Pandemie-Vertrag der WHO sind pure Spekulation

21.3.2022, 16:50 (CET)

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) will angeblich die Demokratien der einzelnen Mitgliedstaaten aushebeln - und zwar mit einem neuen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag zur Bekämpfung von Pandemien. Mit dem Vertrag würden die nationalen Parlamente entmachtet werden, wird in sozialen Medien behauptet.

Bewertung

Diese Behauptungen sind spekulativ, teilweise falsch und aus dem Zusammenhang gerissen.

Fakten

In einem Facebook-Post heißt es, der von der WHO angestrebten Vertrag solle «für alle Länder ein verbindlicher Völkerrechts-Vertrag werden». Der Autor aus Luxemburg schreibt weiter: «Damit würde die Demokratie, wie wir sie einmal in Deutschland gekannt haben, vollends ausgehebelt.» Mit dem Vertrag würde die Weltgesundheitsorganisation «die absolute Weisungsbefugnis erhalten und könnte Impfpflichten, Lockdowns und andere restriktive Maßnahmen erlassen, welche die Regierungen ohne Wenn und Aber ausführen müssten». Die nationalen Parlamente würden damit entmachtet.

Tatsächlich gibt es für den Vertrag bisher nicht einmal einen Entwurf. Daher steht auch nicht fest, welche «Weisungsbefugnisse» die WHO tatsächlich erhalten könnte. Zudem ist noch unklar, ob der Vertrag tatsächlich für alle Unterzeichnerstaaten verbindlich sein würde.

Die 194 Mitglieder der Weltgesundheitsorganisation haben am 1. Dezember 2021 beschlossen, mit der «Ausarbeitung und Aushandlung eines Übereinkommens, einer Vereinbarung oder eines anderen internationalen Instruments» über die Stärkung der Pandemieprävention, -vorsorge und -reaktion zu beginnen. Ziel ist es, das Papier im Mai 2024 zu beschließen.

Unmittelbar zuvor hatte der WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus in einer Rede vom 29. November 2021 die seiner Ansicht nach eindeutige Notwendigkeit für eine «rechtlich verbindliche» Vereinbarung zwischen den Nationen begründet. Die Covid-19-Pandemie habe «grundlegende Schwächen in der globalen Architektur für Vorbereitung und Antwort auf Pandemie» gezeigt. Diese Schwächen seien komplexes und zersplitterte Regierungshandeln, unzureichende Finanzierung und unzureichende Systeme und Werkzeuge. Mechanismen auf freiwilliger Basis hätten dies nicht ändern können. Der Generaldirektor verwies unter anderem auf die weltweit sehr unausgeglichene Verfügbarkeit von Impfstoffen.

Die neue internationale Vereinbarung müsse vier Hauptziele haben. Erstens müsse das Regierungshandeln mittels neuer Gremien, beispielsweise mit einem Rat der Staats- und Regierungschefs, effizienter werden. Zweitens sei mehr Geld nötig, etwa über die Schaffung eines speziellen Fonds. Drittens seien bessere Systeme und Werkzeuge nötig, um den Ausbruch von Pandemien vorhersagen und erkennen sowie darauf reagieren zu können. Viertens müssten auch die Finanzen der Weltgesundheitsorganisation selbst neu geregelt werden, weil diese sehr stark von freiwilligen Spenden abhängig sei.

Die Europäische Union, die ebenso wie die deutsche Bundesregierung für einen rechtlich verbindlichen Vertrag plädiert, hat in einem Papier des Ministerrates eine Reihe von Vorteilen aufgelistet, die ein solcher Vertrag biete. Dabei gehe es um eine bessere Überwachung von Pandemierisiken, ein besseres Warnsystem, eine bessere Bevorratung von medizinischen Gütern, eine engere Zusammenarbeit bei Forschung und Innovation und die Beseitigung von Ungleichheiten beim Zugang zu Impfstoffen, Arzneimitteln und Diagnostika.

Die Frage, ob eine solche Vereinbarung tatsächlich rechtlich verbindlich wäre, ist bisher nicht geklärt. Politischer Widerstand kommt vor allem von den USA, Russland und China sowie von Brasilien und einigen anderen Staaten. In dem Beschluss vom 1. Dezember 2021 zum Beginn der Verhandlungen über den Vertrag heißt es daher auch, die Vereinbarung solle «im Blick auf eine Annahme gemäß Art. 19 oder gemäß anderen Bestimmungen der WHO-Verfassung, die dem Verhandlungsgremium geeignet erscheinen» ausgehandelt werden. Art. 19 der WHO-Verfassung sieht rechtlich verbindliche Beschlüsse vor - die in dem Beschluss erwähnten «anderen Bestimmungen» könnten beispielsweise auch Empfehlungen erlauben.

Derzeit ist vor allem ungewiss, welche zusätzlichen Kompetenzen die WHO mit dem Vertrag tatsächlich bekommen würde. Bisher gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die WHO eine Weisungsbefugnis für Impfpflichten oder Lockdowns in einzelnen Staaten bekommen könnte. Schon bisher hat die WHO dank der «International Health Regulations» von 2005 das Recht und die Pflicht, eine «gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite» zu erklären. Diese kann mit Empfehlungen - nicht Weisungen - für restriktive Maßnahmen verbunden sein. Von diesem Recht hat die WHO bei der Covid-19-Pandemie Gebrauch gemacht.

Zudem enthalten ähnliche Verträge stets Hinweise darauf, dass die jeweiligen Unterzeichnerstaaten einen Vertrag im Rahmen der nationalen verfassungsmäßigen Ordnung anwenden müssen. Damit ist klargestellt, dass ein internationaler Vertrag keine Verfassungsbestimmungen aushebeln kann. Entsprechende Hinweise finden sich auch im bisher einzigen Übereinkommen, das bei der WHO unter Berufung auf Art. 19 der WHO-Verfassung völkerrechtlich verbindlich abgeschlossen wurde: Dabei handelt es sich um das Rahmenabkommen zur Eindämmung des Tabakgebrauchs von 2003, das ein Verbot der Tabakwerbung vorsah.

(Stand: 21.3.2022) 

Links

Facebook-Post, archiviert

Beschluss WHO, archiviert

Rede Tedros, archiviert

Papier EU-Ministerrat, archiviert

WHO-Verfassung, archiviert

Rahmenabkommen von 2003, archiviert

WHO über das Rahmenabkommen, archiviert

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