US-Immunologe Fauci hat kein «krisenhaftes» Ereignis herbeigewünscht

08.10.2021, 14:36 (CEST), letztes Update: 08.10.2021, 14:50 (CEST)

Der US-Immunologe Anthony Fauci hat angeblich schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie gesagt, man brauche ein krisenhaftes Ereignis, um bei «gentechnischen Therapien» nicht an bürokratische Fesseln und Verfahren gebunden zu sein. Zudem hätten Wissenschaftler schon damals darüber gesprochen, wie einfach Coronaviren im Labor manipuliert werden könnten.

Bewertung

Fauci hat das nicht gesagt. Seine Äußerungen und die anderer Wissenschaftler sind falsch zitiert, fehlerhaft übersetzt und zugleich aus dem Zusammenhang gerissen.

Fakten

In einem mit den Worten «Zufälle gibt‘s» eingeleiteten Facebook-Post heißt es, Fauci und Rick Bright, ein anderer führender US-Wissenschaftler, hätten am 29. Oktober 2019 im Fernsehen über die Herstellung von mRNA-basierten Impfstoffen gesprochen. Wegen des öffentlichen Widerstands gegen gentechnische Therapien müsse es «ein "krisenhaftes" Ereignis (disruptive event)» geben, um ein Szenario herbeizuführen, bei dem sie «nicht an bürokratische Fesseln und Verfahren gebunden» seien. Zugleich hätten die Wissenschaftler darüber «schwadroniert», wie einfach es doch sei, Coronaviren im Labor zu manipulieren. Zugleich wird auf einen wortgleichen Post bei Telegram verlinkt.

Tatsächlich hat der US-Fernsehsender C-SPAN am 29. Oktober 2019 eine Podiumsdiskussion übertragen, die im Rahmen einer dreitägigen Konferenz des Milken Institute über Gesundheitsfragen in Washington organisiert wurde. Bei dieser Diskussion ging es um die Frage, ob und wann es eine universelle Impfung gegen alle Arten von Grippe geben könnte, welche die bisher jährliche Grippe-Schutzimpfung gegen jeweils einzelne Versionen ersetzen würde.

Während der rund 58 Minuten dauernden Diskussion wurde der Begriff «disruptive event» entgegen der Behauptung im Facebook-Post überhaupt nicht verwendet. Allerdings tauchte das Wort «disruptive» drei Mal und das Wort «disrupting» ein Mal auf (eine archivierte Fassung enthält das komplette Transskript der Veranstaltung).

Das Wort «disruptive» hat laut Cambridge Dictionary zwei mögliche Bedeutungen. Erstens kann es «störend» bedeuten. Ein Schüler könne in der Klasse einen «störenden Einfluss» («disruptive influence») haben. Zweitens bedeutet das Wort im Business-Bereich, dass die traditionelle Weise, in der eine Industrie arbeitet, sich verändert, vor allem in neuer und effizienter Weise. Deswegen werde beispielsweise von «disruptive technologies», also neuen, unkonventionelle Technologien gesprochen.

Die Übersetzungs-Webseite leo.org bietet für «disruptive technologies» die deutschen Möglichkeiten «bahnbrechende Technologien» oder «revolutionäre Techologien» an. Auch das Oxford Learner‘s Dictionary führt neben der ersten Bedeutung «störend» die zweite Definition «neu und originell, in einer Weise, die die Art, wie etwas getan wird, wesentlich verändert» («new and original, in a way that causes major changes to how something is done») auf.

«Disruptive Technologien» sind auch in der deutschen Forschungslandschaft ein bekannter Begriff, der nichts mit «störend» oder gar «krisenhaft» zu tun hat. Eine Definition des Fraunhofer-Instituts findet sich hier. Auch Gablers Wirtschaftslexikon teilt diese Definition und erläutert zum besseren Verständnis: «Kompressionsformate wie MP3, Geräte wie Digitalkameras, Flachbildfernseher, Smartphones und 3D-Drucker sowie Innovationen wie Kryptowährungen sind Beispiele für disruptive Technologien.»

Ein Blick auf die Zitate lässt keinen Zweifel daran, dass bei der fraglichen Diskussion über Grippe-Impfungen das Wort «disruptiv» im Sinne von neu, unkonventionell, anders oder frisch benutzt wird.

Bright, ein ranghoher Beamter des US-Gesundheitsministeriums und dort zuständig für biomedizinische Forschung, sagt (ab Minute 24:00), es habe in den Vergangenheit immer wieder «sexy» Forschungsbereiche gegeben - beispielsweise die Geflügelpest (H5N1) oder das HI-Virus (Aids). Die Grippe gehöre nicht dazu. Es sei wichtig, dass die im Bereich der Grippe-Impfstoffe sehr isoliert forschenden mehr als 40 Unternehmen sich über «die ganze Breite des Wissens» austauschten. Die Forschung brauche neue Ideen.

«Um das (die Forschung an einem universalen Grippeimpfstoff) sexy zu machen: Ich denke, dass ich das Konzept, das Feld aufzumischen (disrupting the field), mag. Zusätzlich zu dem, was wir schon tun und worin wir gut sind, brauchen wir eine Begeisterungsfähigkeit (entity of excitement) da draußen, die völlig unkonventionell (completley disruptive) ist und die nicht an bürokratische Vorgaben und Verfahren gebunden ist», sagt Bright (ab Minute 31:30).

Danach sagt Fauci (ab Minute 33:00): «Der HIV-Bereich wurde wachgerüttelt, als wir eine Menge Geld hineingesteckt haben.» Dies sei auch die einfachste Weise, Studenten für Forschung zu begeistern, die «nicht sexy» sei. Wenn man, wie im US-Kongress diskutiert, viel Geld in die Forschung an einem universellen Grippeimpfstoff steckte, «dann würde man neue Leute dazu bewegen, sich mit neuen unkonventionellen Ideen (with new ideas that are disruptive) zu beteiligen und die mit einem anderen Blickwinkel kommen», erklärt Fauci. «Wenn man Geld fließen lässt, dann verändert sich das Feld. Genau das ist mit HIV passiert.»

Fauci sagte, zwar stürben jedes Jahr Hunderttausende an Grippe, doch gebe es bei Wissenschaftlern, die sich mit Malaria, Tuberkulose, Ebola und anderen Krankheiten beschäftigten, die irrige Ansicht, die Grippe sei keine ernste Krankheit (ab Minute 42:25). Er fügt dann hinzu: «Wir haben also wirklich ein Problem damit, wie die Welt die Grippe wahrnimmt. Und das ist schwer zu verändern. Es sei denn, man tut es von innen heraus und sagt: Deine Wahrnehmung interessiert mich nicht, wir gehen das Problem in unkonventioneller Weise und in iterativer (das Bisherige verbessernder) Weise an, denn wir brauchen beides.»

Auf Faucis Bemerkung, die Grippe werde nicht ernst genug genommen, reagiert der Moderator mit der provozierenden Frage, ob es «besser für die Menschheit» gewesen wäre, wenn die Grippe-Pandemie von 2009 tödlicher verlaufen wäre. Fauci antwortet: «Nein. Wir hatten - nicht so ernst wie 1918 - aber wir hatten ziemlich schlimme Pandemien in 1957 und 1968. Das hat nicht viel verändert.»

Der in dem Facebook-Post behauptete «öffentliche Widerstand gegen gentechnische Therapien» (mRNA) und ein dafür angeblich benötigtes «krisenhaftes Ereignis» tauchen im Verlauf der Diskussion überhaupt nicht auf. Auch über die einfache Manipulation von Coronaviren im Labor wird nicht gesprochen.

(Stand: 8.10.2021)

Links

Facebook-Post, archiviert
Podiumsdiskussion, archiviert

Video auf Youtube, archivierte Fassung
Cambridge Dictionary, archiviert
Oxford Learner‘s Dictionary, archiviert
Fraunhofer-Institut, archiviert
Gablers Wirtschaftslexikon, archiviert

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