Kachowka-Katastrophe
Stausee-Pegel stieg innerhalb von Wochen - Russland kontrollierte Regelung am Damm
19.6.2023, 17:40 (CEST)
Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms hat gravierende Auswirkungen auf das Leben vieler Menschen im Süden der Ukraine. Bisher ist weiterhin unklar, wie genau der Damm zerstört wurde und wer dafür verantwortlich ist. In sozialen Medien kursieren nun Behauptungen, die angeblich Beweise dafür liefern sollen, dass die Ukraine das Ausmaß der Flutkatastrophe infolge der Staudamm-Zerstörung mindestens verschlimmert habe. Der Pegel am zerstörten Staudamm soll «in den letzten Tagen künstlich von 14 Metern auf 17,5 Meter angehoben» worden sein. «Das konnte nur das ukrainische Kiewer Regime machen, weil sie den Fluss aufwärts / oberhalb (nördlich) gelegenen anderen Staudämme des Flusses #Dnepr kontrollieren», heißt es als Schlussfolgerung in einem Facebook-Beitrag. Doch das ist so nicht korrekt.
Bewertung
Die angegebene Pegelveränderung ist falsch. Richtig ist, dass der Pegel des Stausees in den vergangenen Wochen - nicht Tagen - auf ein Rekordhoch gestiegen ist. Russland hatte die Kontrolle über den Damm und damit das mögliche Wasserablassen. Die Ukraine kann also nicht allein verantwortlich für den Pegelanstieg gewesen sein. Hohe Pegelstände sind zudem im Frühjahr üblich.
Fakten
Den Pegelstand von rund 17 Metern hatte der Kachowka-Staudamm bereits Ende April, Anfang Mai 2023 erreicht. Das ergibt sich aus Messungen mithilfe von Satellitendaten, die das US-Landwirtschaftsministerium und Theia, ein Datendienst von mehreren französischen öffentlichen Einrichtungen, veröffentlicht haben. Es ist also falsch, dass der Pegel in den letzten Tagen vor der Zerstörung am 6. Juni um mehr als drei Meter stieg - von 14 auf 17,5 Metern, wie es im Facebook-Beitrag heißt.
Der Tiefstand von 14 Metern wurde im Januar und Februar gemessen - rund vier Monate vor der Zerstörung. Zu diesem Zeitpunkt war der Pegelstand so tief wie seit Jahrzehnten nicht. Satellitendaten von Januar 2023, die der amerikanische Sender NPR ausgewertet hatte, zeigten, dass an der russischen kontrollierten Anlage Wasser durch Schütze, so werden die Vorrichtungen zum Regeln des Wasserdurchflusses genannt, abfloss - also der Stausee entleert wurde. Russland kontrolliert den Kachowka-Damm seit kurz nach Beginn seines Einmarsches in die Ukraine am 24. Februar 2022.
Unter wessen Anweisung und zu welchem Zweck Wasser aus dem Kachowka-Stausee herausgeleitet wurde, lässt sich nicht eindeutig belegen. Das Leeren des Sees zeigt jedoch: Am russischen kontrollierten Damm war es Anfang des Jahres möglich, durch Öffnen der Schütze, den Pegelstand zu beeinflussen und zu senken.
Doch wie ist der Kachowka-Stausee nun wieder vollgelaufen zwischen Februar und Mai und wieso erreicht sein Pegel ein Rekordhoch? Im Frühling sorgen Schneeschmelze und Regen für einen erhöhten Wasserzufluss, das ist also saisonal üblich. Staustufen an Flüssen können auch - indem der Durchfluss an den Dämmen geregelt wird - zum Hochwassermanagement beitragen. Der Kachowka-Staudamm ist der letzte einer Kaskade aus sechs Dämmen entlang des Flusses Dnjepr, an denen sich jeweils Wasserkraftwerke befinden. Der Durchfluss wird also auch zur Stromerzeugung genutzt. Die übrigen fünf Dämme weiter flussaufwärts kontrolliert die Ukraine.
Die ukrainischen Stellen haben also einen Einfluss darauf, wie viel Wasser sie weiter flussabwärts leiten. «Kaskaden werden darauf ausgelegt, um den Pegelstand zu regeln und im Bedarfsfall abzusenken», sagte Alexander Schwab, Wasserkraftwerksingenieur und Vizepräsident der österreichischen Firma Andritz Hydro, die auch an einem ukrainischen Wasserkraftwerk entlang des Dnjepr gearbeitet hat, der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Das Weitergeben von zusätzlichen Wassermassen funktioniere entlang eines Flusses aber nur eingeschränkt. «Der Regelbereich ist recht gering», sagte Schwab. Auch für das Funktionieren der Wasserkraftwerke an den Dämmen muss ein gewisser Pegelbereich gehalten werden.
Grundsätzlich ist es also möglich, dass über die Staudämme weiter flussaufwärts mehr Wasser weitergeleitet wird. Doch ob der Pegel eines Stausees hoch bleibt, wird vor allem anderswo beeinflusst: an seinem Damm - in diesem Fall also dem russisch kontrollierten Kachowka-Staudamm. «Wenn man ein Aufstauen des Sees verhindern möchte, gibt es die Möglichkeit, das Wasser rechtzeitig kontrolliert abzulassen», sagte Robert Boes, Bauingenieur und Professor für Wasserbau an der ETH Zürich, der dpa.
Schon Wochen vor der Zerstörung des Kachowka-Damms hatte es Vorwürfe gegeben, dass Russland sich nicht ausreichend darum gekümmert habe, Schütze zu öffnen, um das Hochwasser abzuleiten. Entlang des Sees kam es zu Überschwemmungen. Mitte Mai zeigten Satellitenbilder, dass sogar Wasser den Damm überspülte. Ob das mangelhafte Ablassen des Wassers absichtlich geschah, aus Nachlässigkeit oder weil die Anlage aufgrund älterer Schäden oder fehlender Wartung nicht mehr ordnungsgemäß funktionierte, ist unklar.
Es zeigt jedoch: Die verantwortlichen Stellen am russisch kontrollierten Damm haben ihren Einfluss auf den steigenden Wasserpegel nicht wahrgenommen oder nicht wahrnehmen können. Für den hohen Pegel des Stausees kann nicht allein die Ukraine verantwortlich gemacht werden.
Während sich diese Behauptung widerlegen lässt, ist weiterhin nicht geklärt, was genau am Kachowka-Staudamm passiert ist. Seismologen haben an mehreren Stationen gemessen, dass es am Tag der Zerstörung des Dammes, dem 6. Juni, eine Erschütterung gab, wie sie für eine Explosion typisch ist. Dies spricht eher gegen die These, dass der Damm aufgrund des Wasserdrucks brach. Die Ukraine und der Westen werfen Russland die Zerstörung des Damms vor. Moskau bestreitet dies und gibt Kiew die Schuld für die Katastrophe.
(Stand: 19.06.2023)
Links
Daten des Flusspegels beim US-Landwirtschaftsministerium (archiviert)
Daten des Flusspegels beim französischen Dienst Theia (archiviert)
NPR-Bericht über Entleerung des Kachowka-Reservoirs (archiviert)
dpa-Bericht mit Erwähnung der Einnahme des Kachowka-Damms durch Russland (archiviert)
Lexikoneintrag zu Staudämmen (archiviert)
Ihor Pylypenko, Daria Malchykova: Der Kachovka-Stausee. Wirtschaftsmotor und Kriegsschauplatz. In: Zeitschrift «Osteuropa», 1-2/2023, S. 53-60 (archiviert)
AP-Bericht über Hochwasser und mangelnde Kontrolle am Kachowka-Damm im Mai 2023 (archiviert)
Bericht der New York Times mit Satellitenbildern des überspülten Damms (archiviert)
Meldung norwegischer Seismologen über Erschütterung (archiviert)
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