Falsche Berechnungen

Bürgergeld vs. Gehalt: Warum sich Arbeit weiterhin lohnt

26.10.2022, 16:11 (CEST)

Mit Einführung des Bürgergeldes ab 2023 lohne es sich nicht mehr, arbeiten zu gehen. Diese Behauptung verbreitet sich stark in sozialen Netzwerken - hat aber mehr als nur einen Haken.

Lohnt sich Arbeit noch? In sozialen Netzwerken werden hartnäckig Beispiele vorgerechnet, wonach Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor finanziell schlechter gestellt sein sollen als Arbeitslose. Der finanzpolitische Sprecher der AfD-Fraktion im mecklenburgischen Landtag, Martin Schmidt, behauptet etwa Mitte September 2022, eine alleinstehende Einzelhandelskauffrau mit zwei Kindern habe gut 200 Euro weniger Einkommen als eine vergleichbare Bürgergeldempfängerin. Die Berechnung ist aber völlig verzerrt.

Bewertung

Ein Vergleich von Bürgergeld allein mit dem Nettolohn einer Geringverdienerin ist irreführend. Denn finanzielle Ansprüche für Niedriglohnbezieher werden dabei nicht berücksichtigt. Die Rechnung ist daher falsch.

Fakten

Was ist grundsätzlich das Problem mit solchen Gegenüberstellungen?

Häufig werden bei Rechenbeispielen wie diesen Ansprüche verschwiegen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Niedriglohnsektor zustehen können: Wohngeld, Kinderzuschläge, Unterhaltsleistungen oder Freibeträge, die nur Erwerbstätige erhalten. Dadurch kann das Rechenergebnis teils um mehrere Hundert Euro abweichen.

Um welche Berechnung geht es konkret?

Bürgergeld: Ab 1. Januar 2023 löst das neue Bürgergeld in Deutschland das bisherige Hartz IV ab. Für einen Empfänger oder eine Empfängerin mit zwei Kindern setzt AfD-Politiker Schmidt ein Gesamteinkommen von 1198 Euro an. Dieses fügt sich zusammen aus dem Regelsatz von 502 Euro für Alleinstehende plus Kindergeld von 696 Euro. Demnach sind beide Kinder zwischen 6 und 13 Jahren alt, denn für jedes liegt der Bürgergeld-Satz bei 348 Euro.

Schmidt beachtet hingegen nicht, dass Alleinerziehende zusätzlich einen Mehrbedarf bekommen. Bei zwei Kindern unter 16 Jahren sind das knapp 181 Euro, die sogar noch dazuzuzählen sind. Miete und Heizung werden tatsächlich vom Amt übernommen, Strom allerdings muss aus dem zur Verfügung gestellten Regelsatz selbst finanziert werden. Dennoch behauptet Schmidt fälschlicherweise, ein Bürgergeld-Empfänger habe null Euro Energiekosten.

Alles in allem bekäme eine Alleinstehende nach dieser Berechnung 1379 Euro plus Kosten für Wohnen und Heizung.

Einzelhandelskauffrau: Hier nimmt der AfD-Politiker ein äußerst niedriges Gehalt an. Ein 2000-Euro-Bruttoverdienst für 160 Arbeitsstunden bedeutet einen Stundenlohn von 12,50 Euro - also knapp oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns von 12 Euro. Die von Schmidt angegebenen Sozialabgaben in Höhe von knapp 400 Euro (und damit ein Nettoeinkommen von etwa 1600 Euro) sind nachvollziehbar, aber für jede Einzelhandelskauffrau sicherlich individuell zu berechnen - je nach Wohnort und Freibeträgen für die Kinder.

Zu bedenken ist allerdings: Einzelhandelskaufleute verdienen in Deutschland nach Angaben der Arbeitsagentur in der Regel mehr. Im Mittel sind es 2500 Euro.

Besonders verzerrend ist, dass Schmidt eine Handvoll Zuwendungen vernachlässigt, die Menschen mit geringen Einkommen erhalten, nicht jedoch Empfänger von Hartz IV oder Bürgergeld. Einer alleinerziehenden Mutter kommen neben ihrem Arbeitslohn und einem Kindergeld in Höhe von 474 Euro (ab Januar 2023) für beide Kinder zusätzlich zugute:

  • Unterhaltsvorschuss: Diese staatliche Leistung für Kinder von erwerbstätigen Alleinerziehenden wird gezahlt, wenn das andere Elternteil nicht regelmäßig oder in voller Höhe Unterhalt für seine Kinder beisteuert. Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums beträgt der Vorschuss (Stand: 1. Januar 2022) für Kinder zwischen 6 und 11 Jahren monatlich bis zu 236 Euro - im vorliegenden Beispiel also bis zu 472 Euro.
  • Kinderzuschlag: Diese Zuwendung können Familien mit kleinen Einkommen erhalten. Über die Höhe wird individuell entschieden je nach Einkommen, Wohnkosten, Größe der Familie und dem Alter der Kinder. Voraussetzung: Alleinerziehende haben ein Bruttoeinkommen von mindestens 600 Euro (Paare: 900 Euro). In einem Rechenbeispiel der Arbeitsagentur hat eine Alleinerziehende mit zwei Kindern und einem Bruttogehalt von bis zu 2100 Euro bei einer Warmmiete von etwa 790 Euro Anspruch auf diese Leistung. Der Kinderzuschlag liegt seit Juli 2022 bei bis zu 229 Euro monatlich pro Kind.
  • Wohngeld: Den Mietzuschuss erhalten dem Bundesbauministerium zufolge nur Menschen, die keine Transferleistungen (wie Hartz IV oder ab 2023 Bürgergeld) bekommen. Die Höhe hängt vom Netto-Einkommen des Haushalts, der Zahl der Haushaltsangehörigen und den Mietkosten ab. Der Betrag kann bei geringen Gehältern im Drei-Personen-Haushalt durchaus mehrere Hundert Euro ausmachen. Ab Januar 2023 soll das Wohngeld nach Plänen der Ampelkoalition erhöht werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Selbst eine äußerst gering bezahlte Einzelhandelskauffrau hat nach einem grob geschätzten Nettolohn von 1600 Euro, Kindergeld in Höhe von 474 Euro und diversen staatlichen Leistungen auch nach Abzug von Miete und Energiekosten voraussichtlich mehr Geld zur Verfügung als ein Bürgergeld-Empfänger.

Außer Acht lässt AfD-Politiker Schmidt zudem langfristige Folgen einer Arbeitslosigkeit: Beim Bürgergeld etwa werden (wie auch bei Hartz IV) keine Beiträge an die Rentenversicherung abgeführt. Jeder Monat in der Grundsicherung schmälert also künftige Rentenzahlungen.

Was ist zu schlussfolgern?

Die Differenz zwischen Bürgergeld und Gehalt zu berechnen, ist hochkomplex - und vor allem individuell. Diverse staatliche Leistungen werden je nach Fall gezahlt, eine Rolle spielen dabei konkrete Faktoren wie Wohnsituation, Wohnort oder Familiengröße.

Eine Gegenüberstellung, die jegliche staatliche Unterstützung vor allem für Geringverdiener außen vor lässt, verzerrt das Ergebnis extrem zu ungunsten der Erwerbstätigen. Grundsätzlich haben in Deutschland Berufstätige mehr Geld zur Verfügung als heutige Hartz-IV- und künftige Bürgergeld-Empfänger.

Dennoch haben Kritiker des Bürgergeldes zuletzt häufiger in die Diskussion gebracht, die Leistung reduziere Anreize, arbeiten zu gehen. «Ich fürchte, dass sich mehr Menschen mit dem Bürgergeld einrichten werden, als wir heute Hartz-IV-Empfänger haben», sagt etwa Holger Schäfer, Ökonom am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW), in einem «Zeit»-Interview.

(Stand: 26.10.2022)

Links

Bundesregierung über Bürgergeld-Regelsätze (archiviert)

Bundesarbeitsministerium über Mehrbedarf bei Hartz IV (archiviert)

Arbeitsagentur über Verdienste von Einzelhandelskauffrauen (archiviert)

Arbeitsagentur über Kinderzuschlag (archiviert)

Arbeitsagentur über Wohnen/Miete bei ALG II (archiviert)

Bundesfamilienministerium über Unterhaltszuschuss (archiviert)

Bundesbauministerium über Wohngeld (archiviert)

Bundesbauministerium über Wohngeld im Drei-Personen-Haushalt (archiviert)

Deutsche Rentenversicherung über Arbeitslosigkeit/Rente (archiviert)

Ökonom Schäfer im «Zeit»-Interview (archiviert)

Tweet mit falscher Berechnung zu Einzelhandelskauffrau/Bürgergeld-Empfänger (archiviert)

Facebook-Post mit falscher Berechnung zu Einzelhandelskauffrau/Bürgergeld-Empfänger (archiviert)

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