Fehlinterpretation

TK-Daten erfassen neben meldepflichtigen Nebenwirkungen auch milde Impfreaktionen

09.08.2022, 18:13 (CEST)

Häufig haben Menschen nach Impfungen lästige, aber harmlose Beschwerden wie Kopfweh oder Müdigkeit. Die fehlende Abgrenzung zu seltenen Nebenwirkungen nutzen Impfgegner, um falsche Schlüsse zu ziehen.

Die Corona-Impfstoffe schützen nachweislich vor einer schweren Covid-Erkrankung. Nach einer Impfung haben Menschen oft für kurze Zeit Beschwerden wie Armschmerzen oder auch Fieber. Schwere Nebenwirkungen wie Allergieschocks oder Herzmuskelentzündungen sind dagegen sehr selten. Trotzdem wird in sozialen Medien oder in Blogbeiträgen immer wieder behauptet, es gäbe viel häufiger Nebenwirkungen oder gar «Impfschäden» als bekannt. Bisher hat sich das nicht bestätigt. Nun sollen angebliche Daten der Techniker Krankenkasse (TK) einen neuen Beleg liefern: «2021 waren dort 437.593 Versicherte wegen Impfnebenwirkungen in ärztlicher Behandlung», heißt es in einem Blogbeitrag über die Zahlen der TK. Angeblich sollen 2021 «über 2.900% mehr Personen» mit einem Diagnosecode für eine Impfnebenwirkung registriert worden sein als 2020. Diese Zahlen sollen beweisen, dass an das bundesweit zuständige Paul-Ehrlich-Institut (PEI) «wohl nur ein Bruchteil der Impfnebenwirkungen wirklich gemeldet wird». Deuten die Daten der TK wirklich auf ein bisher unbekanntes Ausmaß von Impfnebenwirkungen hin?

Bewertung

Die Daten der TK werden fehlinterpretiert. Sie sind kein Beleg für vermeintlich erhöhte unbekannte Nebenwirkungen oder gar Schäden. Hinter den Diagnosecodes verbergen sich sowohl kurzzeitige Impfreaktionen - wie der Impfarm, Müdigkeit oder Kopfschmerzen - als auch seltene Nebenwirkungen, die meldepflichtig sind.

Fakten

Die Daten der Techniker Krankenkassen (TK) stammen aus einer Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz, die über das Portal «Frag den Staat» eingereicht wurde. Konkret hatte eine Person nach Abrechnungszahlen von vier ICD-10-Codes in allen Quartalen der Jahre 2019 bis 2021 gefragt.

Welche Codes wurden untersucht - und was bedeuten sie?

ICD-10-Codes werden zur Erfassung einzelner medizinischer Diagnosen verwendet. Jene vier Codes, die angefragt wurde, stehen für die Abrechnung von Diagnosen, bei denen es um Komplikationen und Nebenwirkungen nach Impfungen geht. Drei sind für jegliche Impfungen anwendbar, einer der Codes betrifft nur die Covid-Impfung. Er gilt seit April 2021. Um folgende Diagnosecodes geht es:

  • «T88.0»: Dieser Code bezeichnet eine «Infektion nach Impfung». Wie das Bundesgesundheitsministerium (BMG) mitteilt, wird der Schlüssel von Ärzten und Ärztinnen vergeben, falls zum Beispiel nach der Impfung eine Entzündung auftritt, etwa wenn über die Einstichstelle Erreger in den Körper gelangen.
  • «T88.1»: Unter dieses Kürzel fallen «sonstige Komplikationen nach Impfung», die nicht einem anderen Code zuzuordnen sind. Dem BMG zufolge wird «T88.1» verzeichnet, wenn etwa die Einstichstelle rot oder geschwollen ist oder Hautausschlag auftritt.
  • «Y59.9»: Unter der Rubrik «Komplikationen durch Impfstoffe oder biologisch aktive Substanzen» werden laut BMG unerwartete Ereignisse gelistet, die durch einen bestimmten Stoff ausgelöst werden. «So ein Stoff kann zum Beispiel ein Impfstoff sein», heißt es. Muss es aber nicht.
  • «U12.9»: Dieser Code bezeichnet «unerwünschte Nebenwirkungen bei der Anwendung von Covid-19-Impfstoffen», die nicht näher bezeichnet werden. Vergeben wird der Schlüssel bei Beschwerden wie Schmerzen oder Rötungen an der Impfstelle, Fieber, Ausschlag, Durchfall, Gliederschmerzen oder eine Schwellung der Lymphknoten, wie das BMG schreibt. Demnach verwenden Ärzte diesen Code neben leichten Symptomen auch für schwerere, nicht beabsichtigte Wirkungen wie Lähmungen im Gesicht oder Entzündungen am Herzen.

Die vier ICD-10-Codes bilden also sowohl typische, vergleichsweise harmlose Impfreaktionen ab - etwa Müdigkeit, Rötungen oder Schmerzen an der Einstichstelle - als auch seltene Nebenwirkungen oder den Verdacht darauf. «Diese Daten geben keinen Hinweis auf die Schwere oder Art der Nebenwirkung», teilte ein Sprecher der TK der Deutschen Presse-Agentur (dpa) mit.

Die Häufigkeit der Diagnosecodes eignet sich daher nicht für einen Vergleich mit den Verdachtszahlen zu Impfnebenwirkungen des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), das in Deutschland für die Überwachung der Sicherheit von Impfstoffen zuständig ist. «Es gibt einen Unterschied zwischen ärztlichen Diagnose-Schlüsseln zur Abrechnung mit Krankenkassen (ICD-Codes) und meldepflichtigen Impfnebenwirkungen, die die Ärztinnen und Ärzte an das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) melden», teilte die TK mit.

Wer alle Fälle unter diesen Diagnosecodes mit meldepflichtigen Nebenwirkungen gleichsetzt, macht einen Fehler. Über die Sicherheit der Covid-Impfstoffe oder Datenerhebungen beim PEI sagen sie nichts aus. «Diese Rückschlüsse sind falsch und lassen sich nicht aus den ausgewerteten Daten herleiten», so die TK.

Fälle sind nicht gleichzusetzen mit Versicherten pder Behandlungen

Die Zahl von 437 593 Fällen, in denen 2021 ein Diagnosecode mit Bezug zu Komplikationen nach Impfung erfasst wurde, enthält Fälle jeglicher Impfungen. Hier sind Masern, Tollwut, Grippe ebenso enthalten wie Covid-19 - auch wenn natürlich die hohe Zahl der Covid-19-Impfungen in dem Jahr einen entscheidenden Anteil hatte. Hinter dieser Zahl der Fälle stehen 431 696 Versicherte, denn auf einen Versicherten können mehrere Fälle und noch mehr Diagnosen entfallen.

Es lässt sich auch nicht schlussfolgern, dass hinter all den Fällen eine ärztliche Behandlung steht: Ärzte und Ärztinnen müssen auf ihren Abrechnungen ICD-Codes vergeben. Wer sich zum Beispiel nach einer Impfung zu schlapp fühlt, um arbeiten zu gehen, konsultiert den Arzt für eine Krankschreibung. Dazu müssen die Patienten aber nicht unbedingt behandelt werden.

Der Vergleich des Impfjahres 2021 mit den Vorjahren ohne Covid-Impfung - der angebliche Anstieg von mehr als 2 900 Prozent mehr Personen mit Impfnebenwirkungen - hinkt: Zum einen wird keine Vergleichszahl angegeben, wie viele Impfungen insgesamt unter TK-Versicherten in den Jahren 2019, 2020 und 2021 stattfanden. Zum anderen wurde im Frühjahr 2021 ein neuer Diagnosecode für Covid-19-Impfungen eingeführt, den es in den Vorjahren nicht gab. Zudem können Diagnosecodes unterschiedlich kombiniert werden. Das alles schränkt die Vergleichbarkeit ein. Die errechnete Prozentzahl eignet sich also nicht für inhaltliche Rückschlüsse.

Verzerrt wird der Vergleich auch, weil es ein verändertes Bewusstsein gibt, auch die übliche Rötung am Arm oder einen Tag Fieber nach der Impfung mit einem Arzt oder einer Ärztin zu besprechen: Experten haben immer wieder betont, dass die hohe öffentliche Aufmerksamkeit während der Pandemie auch zu mehr Meldungen möglicher Impfreaktionen und -nebenwirkungen führt. Das kann die Vergleichbarkeit mit den Vorjahren einschränken.

Diagnosecodes von Krankenkassen oder Ärzten, die sowohl vorübergehende Impfreaktionen als auch Nebenwirkungen abbilden, wurden bereits in der Vergangenheit mehrfach dazu verwendet, um Falschinformationen über die Sicherheit der Corona-Impfstoffe zu verbreiten. Fest steht: Sowohl Zahlen der Krankenkasse BKK Provita als auch der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) konnten ebenfalls nicht belegen, dass es eine große unbekannte Zahl von Nebenwirkungen der Corona-Impfung geben soll.

(Stand: 9.8.2022)

Links

Übersicht zu den erfragten TK-Daten auf dem Portal «Frag den Staat» (archiviert)

BMG über ICD-Code «T88.1» (archiviert)

BMG über ICD-Code «T88.0» (archiviert)

BMG über ICD-Code «Y59.9» (archiviert)

BMG über ICD-Code «U12.9» (archiviert)

dpa-Faktencheck «Kein Beleg für mehr Nebenwirkungen: KBV-Daten enthalten vor allem harmlose Impfreaktionen»

dpa-Faktencheck «BKK Provita erfasst auch milde Impfreaktionen, nicht nur meldungspflichtige Nebenwirkungen»

dpa-Faktencheck: «Verdachtsfälle werden häufiger gemeldet, nicht tatsächliche Nebenwirkungen»

Blogbeitrag (archiviert)

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