Video aus Melitopol

Angebliche «Bürgermeisterin» ist Vertreterin der Besatzungsverwaltung

02.06.2022, 15:50 (CEST)

Russland hält mehr als drei Monate nach Beginn der Invasion in die Ukraine große Teile des Landes besetzt. Neben Gebieten im Osten des Landes ist vor allem die Region rund um die Großstadt Melitopol im Süden der Ukraine betroffen. Nun hat sich dort eine Politikerin den Fragen von Journalisten und Medienaktivisten gestellt: angeblich die «Bürgermeisterin» der Stadt (archiviert). Ist sie das wirklich?

Bewertung

Der Begriff «Bürgermeisterin von Melitopol» ist irreführend. Es handelt sich um ein von Russland besetztes ukrainisches Gebiet. Die Frau im Video ist von den Besatzern an die Spitze der dortigen Besatzungsverwaltung gesetzt worden. Melitopol hat nach wie vor einen ukrainischen Bürgermeister, der sein Amt aber nicht vor Ort ausüben kann.

Fakten

Bei der Person, die im Video auf einer Pressekonferenz zu sehen ist, handelt es sich um die von den russischen Besatzern eingesetzte Statthalterin und pro-russische Politikerin Halyna Daniltschenko. Sie wandte sich in dieser Funktion erstmals Mitte März an die Einwohner von Melitopol.

Kurz zuvor war der Bürgermeister der Stadt, Iwan Fedorow, ukrainischen Angaben zufolge entführt worden. Er kam wenige Tage später wieder frei, hält sich jedoch nicht mehr in der Stadt auf. Melitopol liegt nahe der seit Jahren von Russland annektierten Krim und wurde bereits kurz nach der russischen Invasion besetzt.

Die Frage nach der Bezeichnung der von Russland eingesetzten und von pro-russischen Medien «Bürgermeisterin» genannten Politikerin steht in einem völkerrechtlichen Spannungsfeld. Über den Status der besetzten Gebiete und ihrer Verwaltung gibt es Regelungen im Genfer Abkommen IV über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten. In Artikel 54 des Abkommens, das sowohl von Russland als auch der Ukraine ratifiziert wurde, heißt es: «Es ist der Besatzungsmacht verboten, den Status der Beamten, Behördenmitglieder oder Richter des besetzten Gebietes zu ändern oder gegen sie Sanktionen oder irgendwelche Zwangsmaßnahmen oder diskriminierende Maßnahmen zu ergreifen, weil sie sich aus Gewissensgründen enthalten, ihre Funktionen zu erfüllen.»

Hans-Joachim Heintze, Professor für Völkerrecht an der Ruhr-Universität Bochum, sagt gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa): «Dem Genfer Abkommen zufolge soll man zum Schutz der Zivilbevölkerung die Verwaltung in besetzten Gebieten so wenig wie möglich beeinträchtigen.»

Allerdings steht dieser Maßgabe im Völkerrecht ein anderer Punkt entgegen - das Interesse der Besatzungsmacht. «Im Rahmen ihrer militärischen Notwendigkeit kann sie eine Besatzungsverwaltung durchsetzen», sagt Heintze.

Konkrete Bezeichnungen für eine solche Verwaltung oder Titel für bestimmte Beamte werden in den Genfer Abkommen nicht benannt. Ob sich jemand dort «Bürgermeisterin» nennen darf oder nicht, ist also keine Frage, die völkerrechtlich geregelt ist. Medien, darunter die dpa, sprachen in der Vergangenheit in Bezug auf Daniltschenko unter anderem von einer «Statthalterin». Heintze empfiehlt den Begriff «Vertreterin der Besatzungsverwaltung».

Dem Völkerrechtler zufolge gibt es im konkreten Fall der russischen Besatzung von ukrainischen Gebieten aber weitere Punkte, die zu beachten sind: «Das Problem ist, dass die Russen hier nicht nur okkupieren, sondern vermutlich auch annektieren wollen.» Während das Besatzungsregime vorläufig ist, ist eine Annexion völkerrechtlich verboten. Eine dauerhafte Einsetzung einer Verwaltung durch die Annexionsmacht wäre laut Heintze völkerrechtlich nicht zulässig und dürfe durch andere Staaten nicht anerkannt werden.

Daniltschenko antwortet in dem Video auf Fragen einer pro-russischen Aktivistin aus Deutschland. Sie stellt Behauptungen über den angeblichen Beschuss von Wohnhäusern in Melitopol durch die ukrainische Armee auf. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

(Stand: 1.6.2022)

Links

dpa-Meldung über Einsetzung Daniltschenkos (13.3.2022) (archiviert)

Videobotschaft von Daniltschenko (13.3.2022) (archiviert; archiviertes Video)

ZDF-Bericht über Entführung des Bürgermeisters Fedorow (12.3.2022) (archiviert)

«Süddeutsche Zeitung» über Fedorow (21.4.2022) (archiviert)

ntv über russische Einnahme Melitopols (26.2.2022) (archiviert)

Genfer Abkommen IV (archiviert)

Hintergrund von «t-online» zur deutschen Aktivistin Alina Lipp (archiviert)

Beitrag auf Telegram (archiviert; archiviertes Video)

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