Corona-Impfstoffe

Charité: Internetumfrage von Matthes sagt nichts über Gesamtbevölkerung aus

12.5.2022, 15:47 (CEST)

Seit Beginn der Corona-Impfkampagne verunsichern Berichte über angebliche Nebenwirkungen viele Menschen. Seit einigen Tagen verbreitet sich die Behauptung, dass «die Zahl schwerer Komplikationen nach MRNA-Impfungen gegen Sars-CoV-2» vierzig Mal höher sei, als vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI) erfasst (archiviert), also von dem für Impfstoffe zuständigen Bundesinstitut. Dies habe eine «langfristige Beobachtungsstudie der Berliner Charité» gezeigt. Als Studienleiter wird Professor Harald Matthes genannt (archivierter Post; archiviertes Video). Angeblich leiden 8 von 1000 Geimpften unter schweren Nebenwirkungen, diese Zahl decke sich mit Daten aus anderen Ländern. Sind diese Zahlen belegt?

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Die Charité stellt klar: Es handelt sich nicht um die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie, sondern «um eine noch nicht einmal abgeschlossene offene Internetumfrage». Matthes hat die von ihm erhobenen Daten bisher nicht veröffentlicht, für die angebliche Untererfassung der Nebenwirkungen gibt es keinen Beleg.

Fakten

Mit seiner sogenannten ImpfSurv-Studie an der Charité begleiteten Matthes und sein Team der Projektbeschreibung zufolge seit Mitte April 2021 Menschen ein Jahr lang nach ihrer Corona-Impfung. Diese Informationen sind aktuell nicht mehr auf der Seite der Charité abrufbar (Stand: 11.5.2022).

Ein Sprecher des Krankenhauses teilte der Deutschen Presse-Agentur (dpa) auf Anfrage mit: «Bei dieser Untersuchung handelt es sich um eine noch nicht einmal abgeschlossene offene Internetumfrage, im engeren Sinne also nicht um eine wissenschaftliche Studie. Diese Datenbasis ist nicht geeignet, um konkrete Schlussfolgerungen über Häufigkeiten in der Gesamtbevölkerung zu ziehen und verallgemeinernd zu interpretieren.»

So wurde in der ImpfSurv-Umfrage dazu angerufen, einen Fragebogen über an sich selbst beobachtete Impfreaktionen und Nebenwirkungen auszufüllen. Menschen, die sich gegen Sars-CoV-2 haben impfen lassen, seien direkt in Impfzentren und über Mails angefragt worden, ob sie teilnehmen würden, erklärte Harald Matthes der dpa. Auch in Gruppen des Messenger-Dienstes Telegram wurde zur Teilnahme an der Befragung aufgerufen. Eine Datenerhebung in dieser Form führt in der Regel nicht zu repräsentativen Ergebnissen.

Wie die Antworten ausgewertet werden, ist unklar. Trotz mehrfacher schriftlicher Anfrage stellte Matthes die Daten oder die genauen Fragestellungen der dpa nicht zur Verfügung. Seine Begründung: «Die Daten werden erst wissenschaftlich peer review publiziert, bevor diese an die Laienpresse gehen.» Soll heißen: Auf die genauen Werte sollten zuerst Experten und Expertinnen draufschauen.

Die Charité stellt dazu klar: «Professor Matthes hat eine Stiftungsprofessur für Integrative und anthroposophische Medizin an der Charité inne. Zum Themenkomplex Covid-19 und Impfungen ist unsere Expertise in anderen Instituten und Kliniken der Universitätsmedizin verortet.» Und auch Matthes selbst sagt: «Epidemiologische Daten müssen mit entsprechenden Werkzeugen der Epidemiologie beurteilt und bewertet werden.»

Matthes begründet die Hochrechnung seiner Daten in Interviews auch mit ähnlichen Zahlen aus «anderen Registern», die ebenfalls deutlich höher seien als die des PEI. Auf dpa-Anfrage verwies er auf mehrere Studien, etwa die Zulassungsstudien für die Impfstoffe von Moderna und Pfizer/Biontech und eine Auswertungsstudie, die eine Datenbank der Weltgesundheitsorganisation WHO ausgewertet hat.

Die Autoren der WHO-Auswertung kommen auf die Zahl von 0,6 Prozent Verdachtsfälle schwerer gesundheitlicher Probleme. Sie weisen allerdings darauf hin, dass es aufgrund von «fehlender korrekter Auswertung und technischen Problemen» nicht angemessen sei, «alle festgestellten gesundheitlichen Probleme auf die Impfung zurückzuführen».

In den Zulassungsstudien für die beiden mRNA-Impfstoffe stehen zwar Werte von 0,6 Prozent (Pfizer/Biontech) und 1 Prozent (Moderna) bei den festgestellten nicht-tödlichen schweren gesundheitlichen Problemen. In den jeweiligen Vergleichsgruppen, die nur ein Placebo ohne Wirkstoff bekamen, sind die Zahlen aber ähnlich oder gleich hoch und liegen bei 0,5 Prozent (Pfizer/Biontech) und 1 Prozent (Moderna). Ein Zusammenhang mit der Impfung bleibt damit unklar.

Die angeblichen Studienergebnisse von Matthes werden bei Instagram auch zusammen mit einen Artikel über einen ehemaligen Vorstand der Krankenkasse BKK Provita verbreitet. Dieser hatte im Februar 2022 ebenfalls dem PEI unterstellt, zu wenige Fälle von Impfnebenwirkungen zu registrieren. Doch auch die BKK-Provita-Daten lassen diesen Vorwurf nicht zu, wie ein Faktencheck der dpa klarstellt.

(Stand: 12.5.2022)

Links

Beitrag bei Facebook (archiviert)

Weiterer Beitrag bei Facebook (archivierter Post; archiviertes Video)

Beitrag bei Instagram (archiviert)

dpa-Faktencheck zu BKK

ImpfSurv-Projektbeschreibung (archiviert)

ImpfSurv-Umfrage (archiviert)

Telegram-Post mit Aufruf zur Studienteilnahme (archiviert)

Interview auf Focus.de (archiviert)

Auswertungsstudie im «Journal of Applied Pharmaceutical Science» (archiviert)

Zulassungsstudie Pfizer/Biontech (archiviert)

Zulassungsstudie Moderna (archiviert)

Kontakt zum dpa-Faktencheckteam: faktencheck@dpa.com