Notstandsgesetz gibt der kanadischen Regierung weitreichende Befugnisse

21.02.2022, 14:58 (CET), letztes Update: 21.02.2022, 15:08 (CET)

Lkw-Fahrer protestieren in Kanada seit Wochen gegen die in dem Land geltenden Corona-Maßnahmen. Sie sperren mit ihren Fahrzeugen Grenzübergänge und belagern die Hauptstadt Ottawa. In den sozialen Medien wird nun behauptet, Premierminister Trudeau hätte angeblich das Kriegsrecht ausgerufen, um den Protesten ein Ende zu setzen. Stimmt das?

Bewertung

Das Kriegsrecht wurde nicht ausgerufen. Der kanadische Premierminister hat lediglich angekündigt, ein Notstandsgesetz anzuwenden.

Fakten

Der Premierminister von Kanada, Justin Trudeau, kündigte in einer Rede am 14. Februar 2022 an, den sogenannten «Emergencies Act» in Kraft treten zu lassen. Das Gesetz verleiht der kanadischen Regierung für 30 Tage weitreichende Befugnisse. Danach läuft es aus und muss neu gerechtfertigt werden.

Unter anderem dürfen im Rahmen des Gesetzes Reisefreiheiten eingeschränkt und Versammlungen verboten werden. Außerdem kann die Regierung Bankkonten einfrieren. Dies soll die Finanzierung der Proteste unterbinden. Das Gesetz muss nicht nur vom Parlament, sondern auch von den einzelnen Regierungen der Provinzen abgesegnet werden. Wenn das Gesetz dort nicht angenommen wird, kann es nicht in Kraft treten.

Es ist das erste Mal, dass der «Emergencies Act» angewendet werden soll, seit es 1988 den umstrittenen «War Measures Act» ersetzt hat. Trudeaus Vater, der damalige Premierminister Pierre Trudeau, berief sich 1970 auf den «War Measures Act» als Reaktion auf Terroranschläge von Separatisten aus Quebec. In der sogenannten Oktoberkrise wurde das Militär eingesetzt und hunderte Menschen verhaftet, die in Verbindung zur Separatisten-Bewegung gestanden haben sollen.

Im Gegensatz zum «War Measures Act» muss der «Emergencies Act» im Einklang mit der «Charter of Rights and Freedoms» angewendet werden, in der die verfassungsmäßig geschützten Rechte in Kanada festgelegt sind. Das Gesetz sieht auch die Einsetzung eines parlamentarischen Ausschusses vor, der für die Überwachung zuständig ist. Außerdem wird die Durchführung einer Untersuchung nach Aufhebung der Maßnahmen, um «die Umstände, die zur Ausrufung des Notstands geführt haben, und die zur Bewältigung des Notstands getroffenen Maßnahmen» zu untersuchen.

Das Gesetz definiert auch die Situation, in es angewendet werden kann: «Ein Notfall, der sich aus einer Bedrohung der Sicherheit Kanadas ergibt und so ernst ist, dass er einen nationalen Notfall darstellt». Weiter werden vier verschiedene Notfälle aufgeführt: Notfälle des öffentlichen Wohls, Notfälle der öffentlichen Ordnung, internationale Notfälle und Kriegsnotfälle.

Wenn das Gesetz zur Anwendung kommt, wird es unter die Kategorie «Notfall der öffentlichen Ordnung» fallen. Bei einem Notstand der öffentlichen Ordnung darf die Regierung nur Maßnahmen ergreifen, die eine angemessene und verhältnismäßige Reaktion auf die Gefahren für die Sicherheit der Kanadier darstellen. Es kann nur in Anspruch genommen werden, wenn eine Situation «nicht durch ein bestehendes Bundesgesetz geregelt werden kann und die Kapazitäten der Provinzen übersteigt».

Trudeau betonte in seiner Rede, dass seine Regierung das Gesetz nicht anwenden wolle, um «das Militär einzuschalten oder um Grundrechte auszusetzen». Es sei nicht geplant die Meinungsfreiheit einzuschränken. Auch sollen die Menschen weiterhin das Recht auf einen legalen Protest haben. Die kanadische Bürgerrechtsorganisation CCLA plant dennoch gegen die Anwendung des Gesetzes zu klagen. Sie ist der Ansicht, dass die «hohe und eindeutige» Schwelle, die für die Inanspruchnahme des Gesetzes erforderlich ist, nicht erreicht wurde.

Zuvor hatten die Proteste die Hauptstadt Ottawa lahmgelegt und mehrere wichtige Grenzübertritte zur USA blockiert. Die Protestierenden richten sich gegen die geltenden Corona-Maßnahmen in Kanada. LKW-Fahrer, die nicht vollständig geimpft sind, müssen einen PCR-Test nachweisen, der innerhalb von 72 Stunden nach dem Grenzübertritt und der Quarantäne durchgeführt wird. Ungeimpfte LKW-Fahrer sollen nur noch innerhalb des Landes fahren dürfen.

(Stand: 18.2.2022)

Links

Telegram Post mit Behauptung (archiviert)

Rede von Justin Trudeau am 14.2.2022 (archiviert)

Verkündung auf der Seite der kanadischen Regierung (archiviert)

Übersichtsgrafik über den «Emergencies Act» von der kanadischen Regierung (archiviert)

Informationen der kanadischen Regierung zum «Emergencies Act» (archiviert)

Der «Emergencies Act» als Gesetzestext (archiviert)

Chronologie der Oktoberkrise in der kanadischen Provinz Quebec (archiviert)

Kanadische «Charter of Rights and Freedoms» (archiviert)

Kanadische Bürgerrechtsorganisation «CCLA» zur Anwendung des Gesetzes (archiviert)

BBC-Artikel zur Anwendung des Gesetzes (archiviert)

SPIEGEL-Artikel zur Situation (archiviert)

Anforderungen für LKW-Fahrer in Kanada (archiviert)

Kontakt zum dpa-Faktencheckteam: faktencheck@dpa.com