Kaum strengere Corona-Maßnahmen als in Deutschland? Warum der Stringency-Index für diese Wertung nicht taugt
1.2.2022, 14:44 (CET), letztes Update: 1.2.2022, 14:53 (CET)
3G in der Bahn, 2G plus in Restaurants, Homeoffice statt Arbeit im Büro: Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie betreffen in Deutschland viele Bereiche des Lebens. Aber kann es wirklich sein, dass die Bundesrepublik weltweit die zweitstrengsten Corona-Regeln hat, wie es in einem Blog-Artikel vom 21. Januar 2022 (archiviert) behauptet wird?
Bewertung
Der Beitrag ist irreführend. Die angeführte Studie beachtet die strengsten Maßnahmen, die irgendwo in einem Land gelten. Werden also ein einem Landkreis die Schulen geschlossen, bewertet der Index das so, als würden in der ganzen Bundesrepublik die Schulen geschlossen. Das erklärt Deutschlands hohen Score.
Fakten
Der Covid-Stringency-Index der Universität Oxford versucht, die weltweiten Corona-Beschränkungen zu vergleichen. Theoretisch könnte daraus eine Rangliste erstellt werden. Aber diese würde massiv täuschen, denn so einfach ist das Ganze nicht.
Selbst die Macher der Bewertung schreiben über den Covid-Stringency-Index: Dieser «sollte nicht als Maß für die Angemessenheit oder Wirksamkeit der Reaktion eines Landes [auf die Pandemie] interpretiert werden».
Was fließt in den Index ein?
Die Universität Oxford bewertet neun Indikatoren: unter anderem Schul- und Betriebsschließungen, Absage öffentlicher Veranstaltungen oder Beschränkungen in öffentlichen Verkehrsmitteln. Diese Einzelangaben werden zu einem übergeordneten Wert zusammengefasst.
So erhalten die Maßnahmen der einzelnen Staaten ein Gesamt-Rating zwischen 0 und 100. Mit Blick einzig und allein auf diese Angabe gehört Deutschland tatsächlich weltweit zu den Ländern mit dem höchsten Wert. Doch wird häufig (wie auch im untersuchten Blog-Artikel) nicht erwähnt, dass jeweils die strengesten regionalen Regeln zählen - und keineswegs die bundesweit gültigen.
Falls es also in einem Land wie Deutschland regional unterschiedliche Regelungen gibt, berücksichtigt der Stringency-Index die jeweils strengste Maßnahme für den gesamten Staat.
Wie kommt der Wert für Deutschland zustande?
Die Bundesrepublik stand dem Index zufolge seit Anfang Dezember mit einem Wert von 84,26 tatsächlich fast an der Spitze. Strengere Maßnahmen hatten demnach lange Zeit nur die Fidschi-Inseln, jüngst schob sich Italien an Deutschland vorbei. Länder wie die Niederlande, die kurz vor Weihnachten in einen Lockdown mit geschlossenen Restaurants und Geschäften gingen, oder Dänemark, das große Teile des öffentlichen Lebens herunterfuhr, tauchten erst weit dahinter auf.
Das liegt an der föderalen Struktur Deutschlands. Haben Bundesländer oder gar einzelne Landkreise zeitweise strengere Regeln, als sie bundesweit vorgesehen sind, behandelt der Index das so, als würden die Maßnahmen deutschlandweit gelten. Auch Zugangsbeschränkungen wie 3G oder 2G plus werden von dem Index als sehr streng eingestuft. Dabei ermöglichen sie vielen oder - im Fall von 3G - allen Menschen, die sich testen lassen, Zugang und Teilhabe.
Welche konkreten Maßnahmen werden vom Index aufgegriffen?
Dem Stringency-Index zufolge ist der öffentliche Nahverkehr in Deutschland angeblich «geschlossen» oder zumindest sei «den meisten die Benutzung untersagt», heißt es auf der entsprechenden Grafik. Tatsächlich können aber alle Menschen, die geimpft, genesen oder tagesaktuell getestet (3G) sind, Bus, Bahn und Co. benutzen.
Über Schulschließungen in Deutschland heißt es im Index für Dezember und fast den ganzen Januar: «erforderlich (für einige Ebenen oder Schultypen)». Doch arbeiten Schulen tatsächlich weitgehend mit Präsenzunterricht. Auch heißt es: Alle Arbeitsplätze außer für Mitarbeiter in Schlüsselpositionen seien geschlossen. Das entspricht nicht den Tatsachen: Es gilt allerdings 3G am Arbeitsplatz, und Homeoffice muss ermöglicht werden.
Mit Blick auf die Beschränkung privater Treffen stellt der Index für Dezember 2021 richtig dar, dass maximal zehn Leute zusammenkommen dürfen. Allerdings wird zudem behauptet, Veranstaltungen würden abgesagt - was nur in Teilen stimmt. Bundesweit gilt für Kultur- oder Freizeitveranstaltungen nämlich eine 2G-Pflicht (teilweise mit Besucherobergrenzen). Auch Restaurants und Geschäfte sind für Geimpfte und Genesene (unter Umständen mit tagesaktuellem Test) geöffnet.
Kann man staatliche Corona-Maßnahmen überhaupt vergleichen?
Grundsätzlich ist es schwierig, die Covid-Regeln einzelner Länder einander gegenüber zu stellen, da sie zum Beispiel auch von der Altersstruktur der Bevölkerung, der verfügbaren medizinischen Versorgung und dem Immunitätslevel der Bevölkerung abhängen.
Griechenland ging beispielsweise im Jahr 2020 in einen sehr strengen Lockdown, weil es mit rund 6 Intensivbetten pro 100 000 Einwohnern nur sehr wenige Kapazitäten für schwere Erkrankungen hatte. Zum Vergleich: Deutschland hatte damals rund 29 Betten pro 100 000 Einwohner. Südafrika schaffte Ende Januar 2022 viele Corona-Maßnahmen ab, weil laut Studien bereits rund 70 Prozent der Bevölkerung eine Corona-Infektion hatten.
Eine Analyse der Forschungsgruppe CoronaNet, die ebenfalls Daten zu Corona-Maßnahmen in verschiedenen Ländern sammelt, deutet darauf hin, dass genauso institutionelle und politische Faktoren eine Rolle spielen: also zum Beispiel ob ein Staat autoritär oder demokratisch aufgebaut ist.
(Stand: 1.2.2022)
Links
Covid-Stringency-Index bei «ourworldindata.org» (archiviert)
Universität Oxford über Stringency-Index (archiviert)
Legende zu den Stringency-Scores (archiviert)
Stringency-Index mit Tabelle (archiviert)
«Aachener Zeitung» über Lockdown in den Niederlanden (archiviert)
NDR über Maßnahmen in Dänemark (archiviert)
Stringency-Index zum ÖPNV (archiviert)
3G-Regel im deutschen ÖPNV (archiviert)
Stringency-Index zu Schulen und Betrieben (archiviert)
KMK zu Präsenzunterricht in Deutschland (archiviert)
Bundesregierung über Corona-Schutz am Arbeitsplatz (archiviert)
Stringency-Index zu (privaten) Treffen (archiviert)
Bundesregierung über (private) Treffen in Deutschland (archiviert)
Besucherobergrenzen in Berlin (archiviert)
«Augsburger Allgemeine» über 2G plus in Bayern und bundesweit (archiviert)
Bundeszentrale für politische Bildung über Lockdown in Griechenland (archiviert)
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