Debattenbeitrag eines Zukunftsforschers ist kein Plan der Bundesregierung

28.04.2021, 16:12 (CEST)

Es gibt aus Sicht mancher Internetnutzer «unglaubliche Zukunftsvisionen» der «derzeitigen Politik» der deutschen Bundesregierung. Diese «könnte Wahlen zukünftig abschaffen», weil sie die «totale Kontrolle und Steuerung der Gesellschaft» anstrebt. Privateigentum würde demnach auch abgeschafft. Angeblich geht dies alles aus einem Dokument hervor, das auf den Webseiten von Bundesinnenministerium und Bundesumweltministerium zu finden ist.

BEWERTUNG: In den zitierten Textpassagen geht es nicht um Pläne der Bundesregierung, sondern um die Meinung eines finnischen Experten. Dessen Äußerungen sind zudem aus dem Zusammenhang gerissen.

FAKTEN: Bei dem fraglichen Dokument handelt es sich um die 2017 veröffentlichte Smart City Charta (hier archiviert). Diese präsentiert das Ergebnis des Diskussionsprozesses in der 2016 von der Bundesregierung ins Leben gerufenen «Dialogplattform Smart Cities». Dabei geht es um Bedeutung und Rolle der Digitalisierung für die Stadtentwicklung. An den Diskussionen waren nach Angaben des für Bau zuständigen Bundesinnenministeriums rund 70 Experten aus Städten und Kommunen, kommunalen Spitzenverbänden, Wissenschaftsorganisationen und zahlreichen anderen Verbänden beteiligt. Ein internationales Smart-City-Netzwerk sollte ebenfalls entstehen.

In einem Facebook-Post (hier archiviert) heißt es, die Bundesregierung «könnte Wahlen zukünftig abschaffen - da sie dann besser wissen, was die Bürger wollen!». Was «wie die Wahnvorstellungen von durchgeknallten Verschwörungstheoretikern daherkommt», stehe sich auf der Webseite des Umweltministeriums, wo «Bundesministerin Svenja Schulze (SPD) ihre unglaublichen Zukunftsvisionen - der derzeitigen Politik - veröffentlichte».

Es werde «die totale Kontrolle und Steuerung der Gesellschaft angestrebt, in welcher selbst das private Leben von Computern der Regierung bestimmt» werde. Der Computer komme von der Regierung, «die dann nicht mehr von den Menschen gewählt oder auch abgewählt werden kann». In einem anderen Facebook-Post (hier archiviert) heißt es: «Um das Klima zu retten, brauchen wir einen neuen, grünen Kommunismus. Wird super!»

Tatsächlich stellt die 108 Seiten umfassende Smart City Charta nicht Regierungspläne dar, sondern gibt einen Bericht über die Arbeit der «Dialogplattform Smart Cities» wieder. Dabei geht es um «die Bewertung von Chancen und Risiken von Smart Cities». Unter dem Titel «Digitalisierung zielorientiert gestalten» kommen in dem umfangreichen Papier mehrere Experten zu Wort.

Der Facebook-Post bezieht sich auf einen auch namentlich und mit einem Foto aus dem Workshop klar gekennzeichneten Beitrag von Roope Mokka, den Gründer des finnischen Think Tanks «Demos». Darin prognostiziert er, Smartphones würden bereits in zehn Jahren nicht mehr existieren, weil deren Funktionen in unserer Umwelt integriert seien. Wenn eine Technologie sich ausreichend entwickelt habe, werde sie letztendlich verschwinden. Materielle und digitale Welt würden ineinandergreifen. Heute sorge man sich darum, wer unsere Daten kontrolliere: «Vielmehr sollten wir uns aber darüber Gedanken machen, wer unser physisches Umfeld kontrolliert: unsere Straßen, Autos, Häuser, Türen und Schlösser.»

Vor diesem Hintergrund spricht Mokka von einem «hypervernetzten Planeten» und beschreibt dann «einige Visionen oder Disruptionen, (...) die das Internet of NO things mit sich bringen kann». Hier, also bei den «Visionen oder Disruptionen», befinden sich jene Punkte, die in den Facebook-Posts herausgegriffen werden.

Dies könne eine «Post-choice society» sein, die Mokka so erläutert: «Künstliche Intelligenz ersetzt Wahl: wir müssen uns nie entscheiden, einen bestimmten Bus oder Zug zu nehmen, sondern bekommen den schnellsten Weg von A nach B.» Am Ende seines Beitrages spricht sich Mokka für «eine neue Art der Politikgestaltung» aus, die Ziele der Stadt und Initiativen aus der Bürgerschaft zusammenbringe. Programme und Maßnahmen könnten im kleinen Rahmen getestet werden, bevor sie in einer ganzen Stadt oder einem Land umgesetzt werden.

Dank der Informationen über «verfügbare geteilte Waren und Ressourcen» mache es «weniger Sinn, etwas zu besitzen». «Vielleicht wird Privateigentum in der Tat ein Luxus.» Zudem spricht Mokka auch von einer «Post-voting society»: «Da wir genau wissen, was Leute tun und möchten, gibt es weniger Bedarf an Wahlen, Mehrheitsfindung in oder Abstimmungen. Verhaltensbezogene Daten können Demokratie als das gesellschaftliche Feedbacksystem ersetzen.»

In der Smart Cities Charta finden sich nirgendwo Hinweise auf Pläne der Bundesregierung zur Abschaffung von Wahlen oder zur Einführung eines neuen «grünen Kommunismus».

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Links:

Facebook-Post: https://www.facebook.com/1668094423434620/photos/a.1679485102295552/2960203247557058/ (archiviert: https://archive.ph/2LgVd)

Facebook-Post 2: (https://www.facebook.com/groups/2469094346663163/permalink/2905405139698746/) (archiviert: https://archive.ph/kKMCy)

Smart City Charta: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/bauen/wohnen/smart-city-charta-langfassung.pdf?__blob=publicationFile&v=7 (archiviert: http://dpaq.de/jGQGl und https://archive.ph/eFKUP)

Über Roope Mokka: https://demoshelsinki.fi/ihmiset/roope-mokka-2/ (archiviert: http://dpaq.de/lqJto)

Dialogplattform Smart Cities: https://www.bmi.bund.de/DE/themen/bauen-wohnen/stadt-wohnen/stadtentwicklung/smart-cities/smart-cities-node.html (archiviert: http://dpaq.de/qUbzF)

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