Studien fehlinterpretiert: Lockdown und andere staatliche Maßnahmen sind wirkungsvoll

19.02.2021, 11:35 (CET)

Sind Lockdown und Masketragen ein wirksamer Schutz gegen das Coronavirus? Sind die harten staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie gerechtfertigt? In den sozialen Medien sorgen solche Fragen immer wieder für heftige Debatten. In einem Blog-Beitrag (hier archiviert) werden nun verschiedene wissenschaftliche Studien angeführt, die angeblich die «Wirkungslosigkeit» des Lockdowns offenbaren: Staatliche Maßnahmen hätten demnach keinerlei Auswirkung auf die Entwicklung der Infektionszahlen.

BEWERTUNG: Die Studienergebnisse sind ihrem Kontext entrissen sowie verkürzt widergegeben. Die verschiedenen staatlichen Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen, Schulschließungen und Masketragen führen - zusammengenommen - sehr wohl zu einem Rückgang der Infektionszahlen; unklar ist allenfalls, wie stark jede einzelne Maßnahme wirkt.

FAKTEN: Der Blog-Autor zieht zum Beleg seiner Behauptung vor allem die Studie «Four Stylized Facts About Covid-19», die Ende August 2020 als sogenanntes «NBER Working Paper» auf der Homepage des «National Bureau of Economic Research» veröffentlicht wurde. In diesem Papier analysieren die Autoren Andrew Atkeson, Karen Kopecky und Tao Zha die Entwicklung von Covid-19-Sterberaten in Regionen, nachdem dort 25 Todesfälle gebündelt aufgetreten waren. Dabei stellen sie in ihren Modellrechnungen Datentrends fest: Nach 20 bis 30 Tagen fallen die Zuwachsraten in allen analysierten Ländern und US-Bundesstaaten fast gegen null ab und verharren auf niedrigem Niveau.

Die Autoren nehmen diese Beobachtungen zum Anlass, frühere Studien zur Wirksamkeit sogenannter «NPIs», nicht-pharmazeutischer Interventionen (darunter etwa Lockdown, Schulschließungen, Reisebeschränkungen etc.) in Frage zu stellen. Sie warnen dabei vor einer «Überschätzung» der NPIs - anders als im Blog behauptet. Dort heißt es, die Autoren «postulieren» eine Überschätzung.

Zudem wird auch an keiner Stelle des Papiers behauptet, die staatlichen Maßnahmen hätten keinen Einfluss auf die Corona-Pandemie. Die Autoren wollen - nach eigenen Worten - wichtige Beobachtungen weitergeben und Warnhinweise geben, um die NPIs nicht zu überhöhen. Das Working Paper will somit keine Fakten schaffen, sondern Diskussionen anregen, wie es auch auf der Instituts-Homepage heißt.

Auch die zweite, zum Beleg herangezogene Studie ist in ihrer Aussage weit weniger eindeutig, als im Blog behauptet. In dieser Arbeit zeigen Forscher auf, dass Ende 2020 im dänischen Jütland die Infektionsraten bereits vor Verkündung eines Lockdowns sanken; ebenso in den Nachbarregionen, in denen keine Einschränkungen verhängt worden waren. Die Wissenschaftler mutmaßen: Dies könnte an freiwilligen Einschränkungen der Menschen sowie der engmaschigen Beobachtung bestimmter Infektionsherde gelegen haben. Ihr Fazit darum: Rückläufige Infektionszahlen gehen meist auf viele Faktoren zurück, nicht auf einzelne NPIs. Nirgends aber ist zu lesen, dass sich der Lockdown nicht auf «den Rückgang von Infizierten» ausgewirkt habe.

Als dritte Quelle wird eine Studie des kanadischen Kinderarztes Ari Joffe angeführt, wonach Lockdowns Auswirkungen hätten - allerdings die falschen. Joffe schätzt, dass der gesellschaftliche und wirtschaftliche Gesamtschaden eines Lockdowns zehnmal so hoch sei wie der, den das Virus verursache. Wie bei den vorangehenden Arbeiten handelt es sich auch beim Joffe-Paper um ein Preprint, das keiner Expertenprüfung unterzogen wurde.

Gerald Gartlehner, Experte für evidenzbasierte Medizin und deren Evaluation an der Donau-Universität Krems, will den Vorwurf, dass ein Lockdown auch zu Kollateralschäden führe, gar nicht ausräumen. «Ein Herunterfahren des gesellschaftlichen Lebens muss darum immer das letzte Mittel sein», so der Mediziner gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Auch fehle es letztlich noch immer an harter Evidenz dazu, was bestimmte NPIs bewirkten. «Die Folgen einzelner Maßnahmen aufzudröseln und zu bewerten, ist methodisch extrem schwierig und aufwändig.»

Dies, so Gartlehner, bedeute nun aber nicht, dass die Maßnahmen wirkungslos seien und unverhältnismäßigen Schaden anrichteten. Vor allem, wenn es im Kampf gegen eine Epidemie noch kein pharmakologisches Mittel wie ein Medikament oder einen Impfstoff gebe, seien Maßnahmen wie ein Lockdown angebracht und «plausibel». Denn die Erfahrung lehre, dass ein Herunterfahren des gesellschaftlichen Lebens stets auch mit einem Abfall von Infektions- und Todesrate einhergehe.

Dass NPIs wirkten, zeige sich nicht nur an den Corona-Zahlen. «Durch die Kontaktbeschränkungen, durch Masketragen und regelmäßiges Händewaschen verzeichnen wir in diesem Jahr auch weit weniger Grippe- sowie Erkältungsfälle als in den vorherigen Jahren», so Gartlehner im Gespräch mit der dpa.

Vergleichende Studien des Robert Koch-Instituts (RKI) sowie einer internationalen Forschergruppe weisen in dieselbe Richtung: Bei Analyse vorliegender Daten und Beobachtungsstudien kommen die Wissenschaftler zu dem Schluss: NPIs wie Kontakt- und Versammlungsbeschränkungen, wie Schulschließungen und Masketragen führen - bei gewissen statistischen Unsicherheiten - zu Veränderungen der Infektionsraten: Sie sinken erheblich.

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Links:

Blog-Beitrag: https://www.yamedo.de/blog/wirkungslosigkeit-von-lockdown-maksen/ (archiviert: https://archive.is/105PX)

«NBER Working Paper»: https://www.nber.org/papers/w27719.pdf (archiviert: http://dpaq.de/Pm8nM)

NBER-Notiz zu Working Papers: https://www.nber.org/papers.html (archiviert: https://archive.vn/pNa2r)

Jütland-Studie: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.12.28.20248936v1 (archiviert: https://archive.is/KhA6r)

Ari-Joffe-Studie: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.12.28.20248936v1 (archiviert: https://archive.is/KhA6r)

Vita Gerald Gartlehner: https://www.donau-uni.ac.at/de/universitaet/organisation/mitarbeiterinnen/person/4294993462 (archiviert: https://archive.is/ql8IZ)

RKI-Studie: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Projekte_RKI/impact-control-measures-oecd-summary.pdf?__blob=publicationFile (archiviert: http://dpaq.de/s0RjF)

Internationale Studie: https://science.sciencemag.org/content/early/2020/12/15/science.abd9338 (archiviert: https://archive.is/ZTeln)

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