Interviewzitat zu geheimen Wahlen aus dem Kontext gerissen

08.10.2020, 11:47 (CEST)

Ein Politikwissenschaftler soll im Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) vorgeschlagen haben, «über die Abschaffung der geheimen Wahl» nachzudenken - diese Behauptung kursiert mit einem Interviewausschnitt (hier archiviert) als vermeintlichem Beleg in den sozialen Netzwerken und auf Blogs.

BEWERTUNG: Die Äußerung ist aus dem Kontext gerissen worden. Im Interview ging es nicht pauschal um Wahlen, sondern um Abstimmungen in Parlamenten. Anlass war die Wahl eines AfD-Politikers zum Vorsitzenden des Stadtrats im thüringischen Gera, die viel Kritik hervorgerufen hatte.

FAKTEN: Ende September hat der Geraer Stadtrat einen AfD-Politiker zu seinem Vorsitzenden gewählt. Im Anschluss stritten Politiker unter anderem von CDU und SPD darüber, wer dem Kandidaten eine Mehrheit beschafft haben könnte - das Ergebnis war in geheimer Wahl zustande gekommen.

Auch der MDR thematisierte die Wahl, so etwa in der Sendung «MDR aktuell» am 25. September. Darin kam in einem Interview auch der Berliner Politikwissenschaftler Benjamin Höhne als Experte zu Wort, der unter anderem vorschlug, «eine Debatte anzustoßen, ob die geheime Wahl noch die zeitgemäße Wahl angesichts der doch turbulenten politischen Situation ist». Ein elfsekündiger Videoausschnitt mit diesem Zitat wird seitdem auf Facebook verbreitet.

Im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa) sagte Höhne: «Die Aussage fiel im Kontext der Abstimmung im Kommunalparlament in Gera. Sie bezieht sich nur auf Wahlen im Parlament. Ich habe nichts gefordert, sondern wollte eine Debatte zu dem Thema anstoßen. Ich finde, Wähler haben ein Anrecht darauf zu wissen, wie sich ihre Abgeordneten bei Abstimmungen verhalten.» Er habe durch die Verkürzungen seiner Aussagen einen Shitstorm erfahren. «Was daraus von einigen Leuten gemacht wurde, ist völliger Humbug, böswillig und manipulativ», sagte Höhne.

Auf den Seiten des MDR und in der ARD-Mediathek ist das gesamte Interview nicht mehr abrufbar. Ein vollständiger Mitschnitt, den die dpa einsehen konnte, bestätigt jedoch Höhnes Schilderung. Auch eines der auf Facebook verbreiteten Videos (hier archiviert) zeigt mit rund 40 Sekunden Länge etwas mehr Kontext als der kurze Clip. So ist zu sehen, dass Höhne seine Ansicht äußert, dass Wähler wissen sollten, wie sich Parteien bei Abstimmungen verhalten - was gegen geheime Wahlen in Parlamenten spräche. Direkt im Anschluss fällt das Zitat, das nun vielfach ohne Kontext verbreitet wird. Es bezieht sich also klar auf Abstimmungen in Parlamenten.

Derzeit sieht die Thüringer Gemeinde- und Landkreisordnung vor, dass in Gemeinderäten - dazu zählt auch das Stadtparlament der kreisfreien Stadt Gera - Personen, also beispielsweise Vorsitzende, «in geheimer Abstimmung» gewählt werden. Bei Beschlüssen wird hingegen offen abgestimmt - es sei denn, der Rat beschließt eine geheime Abstimmung.

Neben diversen Facebook-Videos verbreitet auch ein Blog unter der Überschrift «Forderung nach Abschaffung geheimer Wahlen im MDR» die Verkürzung (hier archiviert). Erst im Text finden sich einige Erläuterungen zum Hintergrund der Aussage, nicht jedoch zum unmittelbaren Kontext. Zudem wird Höhne fälschlicherweise als Mitarbeiter eines Instituts der «quasi-amtlichen» Stiftung für Wissenschaft und Politik dargestellt. Diese berät unter anderem die Bundesregierung und wird von ihr finanziert. Höhne ist jedoch für das Institut für Parlamentarismusforschung tätig, das zur Stiftung für Wissenschaft und Demokratie gehört.

---

Links:

Interview-Ausschnitt auf Facebook: https://www.facebook.com/419160801859243/videos/347221926692801/ (archiviert: https://archive.vn/xqHRH; Video: http://dpaq.de/Sq8dQ)

Längerer Ausschnitt: https://www.facebook.com/100001725716396/videos/3739321786135308/ (archiviert: https://archive.is/ZI2X3; Video: http://dpaq.de/CQYvV)

Blogbeitrag über Interview: https://www.reitschuster.de/post/forderung-nach-abschaffung-gemeiner-wahlen-im-mdr/ (archiviert: https://archive.vn/VaIZu)

«Ostthüringer Zeitung» über Wahl im Stadtrat von Gera: https://www.otz.de/regionen/gera/afd-politiker-fuehrt-geraer-stadtrat-kritik-von-auschwitz-komitee-id230511962.html (archiviert: https://archive.vn/aEoTa)

Thüringer Gemeinde- und Landkreisordnung (§ 39): http://dpaq.de/08ZMb (archiviert: https://archive.vn/WEru4)

Benjamin Höhne beim Institut für Parlamentarismusforschung: https://www.iparl.de/de/dr-benjamin-hoehne.html (archiviert: https://archive.vn/ewjRA)

Stiftung Wissenschaft und Demokratie: https://www.swud.org/de/impressum.html (archiviert: https://archive.vn/FWfdY)

Stiftung Wissenschaft und Politik: https://www.swp-berlin.org/ueber-uns/finanzierung/ (archiviert: https://archive.vn/CcN3b)

---

Kontakt zum dpa-Faktencheckteam: faktencheck@dpa.com